Siebzehntes Kapitel. Repräsentation und repräsentative Organe. 581
gegenüber den Wählern war aber diese Art der Konstruktion
ganz unvereinbar. Die zweite Auffassung hingegen ıst die heute
in der juristischen Literatur herrschende. Ihr zufolge ist der
Parlamentswille unmittelbar Volkswille, aber irgendein durch
Vollmacht, Auftrag oder sonst eine juristische Kategorie ver-
mitteltes rechtliches Band zwischen Volk und Parlament besteht
nicht, wie immer dieses bestellt werde. Ob Wahl, Ernennung,
Innehabung eines bestimmten Amtes usw. den Rechtsgrund der
Kammermitgliedschaft bilde, so wird durch den Kreationsakt
niemals ein Recht von den Kreierenden auf den Kreierten über-
tragen, der vielmehr Recht und Pflicht ausschließlich aus der
Verfassung schöpft!).
So richtig diese Gedankenreihe ist, so bedarf sie doch einer
wesentlichen Ergänzung. Wenn der Wille der Kammern, und
kein anderer, Volkswille im Rechtssinne ist, so sind die Kammern
selbst ausschließlich das staatlich organisierte Volk. In Wahr-
heit stünde daher einer Handvoll Aktivbürger eine zahllose Menge
politisch Rechtloser gegenüber ?).. Der berühmte Ausspruch
Rousseaus, daß die Engländer nur im Augenblick der Wahl
frei seien, um hierauf sofort wieder zu Sklaven zu werden, wäre
sodann die treffendste Kritik des modernen Repräsentativstaates.
Es ist aber nicht zu leugnen, daß damit gerade der wichtigste
Punkt des ganzen Repräsentativsystems übersehen oder doch
mindestens behauptet wırd, daß er außerhalb des Rechtsgebietes
ähnliche Auffassung. Hier ist aber überall das Volk ım sozialen, nicht
im juristischen Sınne gemeint, das Volk im Gegensatz zum Herrscher,
nicht das durch eine Parlamentsverfassung rechtlich gegliederte Volk.
Das Volk als vom Staat geschiedene Persönlichkeit hat, wie Rieker
dagegen a.a.0. S.51 treffend hervorhebt, keine rechtliche Existenz. Die
richtige Ansicht hingegen, daß das Volk im Repräsentativstaat selbst
unmittelbares Staatsorgan sei, hat zuerst ausgesprochen Gierke, Ge-
nossenschaftsrecht I S. 829, Schmollers Jahrbuch 1883 S. 1142, ohne aber
zwischen dem Volk und der Volksvertretung irgendein Rechtsverhältnis
herzustellen.
t) Vgl. Laband I S.296£f.; v.Seydel Bayr.Staatsrecht I S. 350;
H.Schulze Lehrbuch des deutschen Staatsrechts I S. 456 ff.
®2) Diese Vorstellung führt, auf die Spitze getrieben, nicht ohne
logische Berechtigung, schließlich zu der Behauptung, daß die Volks-
vertretung, namentlich in demokratischen Staaten, eine Art Oligarchie
bilde, vgl. Rieker S.48. Sie ist aber zugleich ein Beweis dafür, daß
diese Art von juristischer Behandlung des Problems schließlich nur
eine Karikatur der Wirklichkeit liefern kann.