626 Drittes Buch. Allgemeine Staatsrechtslehre.
Die Folge dieses Mangels der antiken Lehre zeigt sich ın
der mittelalterlichen Literatur insofern, als zwar die gegenüber
den antiken Gemeinwesen gänzlich veränderten Verhältnisse der
Flächenstaaten nicht übersehen werden können, allein nach keiner
Richtung zu besonderer wissenschaftlicher Erkennung und An-
erkennung gelangen. Das die Christenheit umfassende Imperium
hat gleich dem antiken Rom seine Provinzen und Munizipien;
allein solche Gliederung wird nicht aus dem Wesen des Staates
abgeleitet. Sobald aber der antike Staatsbegriff die Herrschaft
wiedergewinnt, wird der Staat der Theorie, im schroffen Gegen-
satz zu der geschichtlichen Wirklichkeit, die in sich geschlossene
Einheit, deren faktische Dezentralisation zwar häufig konstatiert
wird, ohne daß aber dıe in dieser Tatsache verborgenen Probleme
irgendwie wissenschaftlich durchdrungen würden. Nicht minder
aber ist das neuere Naturrecht von der Idee des zentralisierten
Staates beherrscht, um so mehr, als es sich gleichzeitig mit dem
Ausbau des kontinentalen zentralisierenden Absolutismus ent-
wickelt. Darum vermag auch die dem realen staatlichen ‚Leben zu-
gewendete politische Literatur, der die jenem Zentralismus ent-
gegenwirkenden Mächte nicht entgehen, ihnen keineswegs zu einer
allgemein anerkannten Stellung zu verhelfen).
Erst im bewußten Kampfe mit dem Absolutismus wird die
Bedeutung der Mannigfaltigkeit der staatlichen Gliederung als im
Interesse der Gesamtheit und des einzelnen gelegen erkannt,
gefordert und verteidigt. Erst die neueste Zeit aber, seit der
französischen Revolution, hat den hier vorhandenen Problemen
größere Aufmerksamkeit zugewendet, sowohl theoretisch als
praktisch. Die Lehre von der Gliederung der Staaten ist heute
von der Rechtsgeschichte, dem Staats- und Völkerrechte und von
der politischen Literatur eingehend behandelt, so daß sie einen
wesentlichen Bestandteil der Lehre vom modernen Staate bildet.
Neue fruchtbare Gesichtspunkte für Erweiterung und Be-
urteilung der staatlichen Verhältnisse sind immer aus den Bedürf-
nissen und Kämpfen des politischen Lebens hervorgegangen.
Solche sind es auch gewesen und sind es fortdauernd, welche die
Bedeutung des Gegensatzes von Zentralisation und Dezentralisation
der staatlichen Funktionen kennen gelehrt haben. Der Schultvpus
1) Über die ganze literarische Bewegung seit dem Mittelalter vgl.
Gierke Althusius S. 226 ff.