Neunzehntes Kapitel. Die Gliederung des Staates. 649
keit belassen wurde. Über die Natur der Teile solcher unvoll-
kommenen Einheiten herrschte aber keine klare Vorstellung. Mit
dem ausgeprägten Staatsbegriff der Gegenwart sind jene Kate-
gorien unvereinbar, wenn sie auch heute noch nicht gänzlich
aus der Literatur verschwunden sind!).
Nicht aber ist das Problem selbst damit aus der Welt ge-
schafft. Auch heute noch gibt es zahlreiche Gebilde, welche mit
den herkömmlichen Typen des Einheitsstaates nicht begriffen
werden können. Ja, das Problem tritt sogar schärfer hervor
als früher, weil der wohlausgebildete Bau des modernen Staates
die Besonderheiten seiner Glieder in noch viel faßlicherer Weise
zeigt als der absolute und ständische Staat der letzten Jahr-
hunderte. Heute ist nämlich die rechtliche Einheit der einzelnen
Staatselemente in weit klarerer Weise ausgeprägt als früher. Der
Begriff der Staatsangehörigkeit hat erst mit dem Falle der stän-
disch-feudalen Staatsordnung seine volle Durchbildung erfahren;
die Einheit des Staatsgebietes, die Zentralisation der Verwaltung
und Justiz ın oberster Instanz ıst mit voller Konsequenz erst
seit der französischen Revolution durchgeführt worden. Heute
erscheint der Staat grundsätzlich ausgerüstet mit einem einheit-
lichen Gebiete, einem einheitlichen Volke, einer einheitlichen
Staatsgewalt. Welche Gebietskörperschaften immer in ihm
existieren mögen, ihr Gebiet ıst stets zugleich Staatsgebiet. Die
Mitglieder der in ihm begriffenen Verbände sind zugleich Staats-
angehörige, alle Verbandsgewalt ist seiner Gewalt untertan, so
daß Verbandsorgane niemals vermöge ihrer Zugehörigkeit zu
einem nichtstaatlichen Verbande, sondern immer nur kraft staat-
lichen Willens den Charakter als Staatsorgane erlangen können.
Nun gibt es aber Staaten, in denen die gesamte Einheit
aller Staatselemente zweifellos nicht vorhanden ist. Dadurch
entsteht eine Form der Dezentralisation, die den bisher erörterten
Typen nicht unterstellt werden kann. Für sie muß daher eine
neue auf Grund des empirischen Materials gebildet werden. \Wer
irgendwie mit einem derartigen Gebilde sich näher beschäftigt,
gerät in die gröbsten Widersprüche, wenn er es mit den vor-
handenen staatsrechtlichen Schulbegriffen erfassen will. Im fol-
1) So versucht neuerdings den Begriff der unvollkommenen In-
korporation wiederzubeleben Bornhak, Einseitige Abhängigkeitsver-
hältnissce unter den modernen Staaten 1896 (in Jellinek-Meyer Ab-
handlungen) S. 62 ff.