Zwanzigstes Kapitel. Die Staatsformen. 123
aber immerhin doch abweichend von allen historischen Bildungen
gestaltete, behauptet jene republikanische Theorie das schlechthin
Beste in einer bereits vorhandenen Staatsform gefunden zu haben
und macht höchstens Verbesserungsvorschläge für bestehende In-
stitutionen!). Daher ist die demokratische Republik das Ziel
aller radikalen Parteien in sämtlichen andersgearteten Staaten.
Im letzten Grunde führt die moderne Demokratie auf den
staatsrechtlichen Ausgangspunkt des modernen Naturrechts zurück,
die Ableitung der Staatsgewalt aus dem vereinigten, ursprünglich
souveränen Willen der aus dem Natur- in den staatlichen Zustand
hinübertretenden Menschen. Daher ist für sie das politische
Recht, die Anteilnahme an der Staatsgewalt, ein allgemeines, aus
der menschlichen Natur fließendes, das jedem in den Staats-
verband aufgenommenen und dadurch zum Bürger gewandelten
Individuum zustehen muß?). Das ist der wesentlichste Punkt,
in dem sie sich prinzipiell von der antiken Demokratie unter-
scheidet, die, weit davon entfernt, die Freiheit als vom Wesen
des Menschen unabtrennbar zu erklären, über rein theoretische
Bekämpfung der Sklaverei, die nur Härten des geltenden Rechtes
milderte, das Institut selbst aber unangetastet ließ, nicht hinaus-
gekommen ist. Allerdings wird auch in der Geschichte der
modernen Demokratie diese Folgerung nicht sofort und nicht
überall gezogen, sie liegt aber so sehr in der Richtung ihrer not-
1) Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in der jakobi-
nischen Verfassung stellt in den Artikeln 253—35 einen allgemeingültigen
Kodex des republikanischen Staatsrechts auf: Unteilbarkeit, Unverjähr-
barkeit, Unveräußerlichkeit der Souveränetät, die niemals von einem
Teile des Volkes in ihrem ganzen Umfange ausgeübt werden kann,
allgemeines Stimm- und Wahlrecht, Zeitlichkeit aller öffentlichen Ämter,
Verantwortlichkeit ihrer Träger, Recht und Pflicht des Widerstandes
gegen ungesetzliche Akte der Regierung. Bezeichnend namentlich Art. 27:
„Que tout individu qui usurperait la souverainete, soit & l’instant mis
a mort par les hommes libres.““ Also der Tyrannenmord Bürgerpflicht.
2) Daher wird auch dem Fremden, der gewisse Bedingungen erfüllt
hat, ein Rechtsanspruch auf Aufnahme in den Staatsverband gegeben.
Vgl. Art.4 der jakobinischen Verfassung. Ferner werden dıe Wahl- und
Stimmrechte in dieser Anschauung als streng individuelle, mit keiner
Pflicht verknüpfte Rechte aufgefaßt, während jede Stellung als Organ
der Gesamtheit einen Pflichtcharakter haben soll. (Les fonctions publiques
...ne peuvent ätre considerees comme distinction ni comme des r&com-
penses, mais comme des devoirs. Deklaration der Rechte von 1793 Art. 30.)
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