Full text: Allgemeine Staatslehre

46 Erstes Buch. Einleitende Untersuchungen. 
die Forschungen über Raub- und Kaufehe für die Erkenntnis 
unserer heutigen Ehe von Bedeutung. 
Damit soll natürlich der hohe selbständige. Wert solcher 
geschichtlichen Untersuchungen nicht im geringsten bestritten 
werden, wie nicht minder ihre umfassende Bedeutung für andere 
Wissensgebiete. Indem sie uns den Ursprung der sozialen Er- 
scheinungen lehren, weisen sie Ja deren durchgängige Bedingtheit 
von den mannigfaltigsten natürlichen, psychologischen, ethischen 
Ursachen und Umständen nach. Aber sie.dienen doch wesentlich 
dem Verständnis der Vergangenheit, nicht dem der Gegenwart. 
Für dieses genügt dıe Kenntnis der Entwicklung. Was ihr 
nicht frommt, gehört auf dem uns beschäftigenden Gebiete zu 
den Rechts- und Staatsaltertümern, nicht zur Rechts- und Staats- 
geschichte. Unter dem pragmatischen Gesichtspunkte der Er- 
klärung der lebendigen Einrichtungen scheidet aus dem geschicht- 
lichen Stoffe eine große Menge aus, die höchstens toten Ballast, 
aber keine vorwärtstreibende Kraft zu bilden vermag. 
Auch nach einer anderen Richtung hin lehrt die Erscheinung 
des Zweckwandels, sich zu beschränken und zu bescheiden. Es 
geht nicht an, heutigen Institutionen entschwundene, durch ge- 
schichtliche Forschung konstatierte Zwecke wieder bewußt durch 
gesetzgeberische Tätigkeit einzuflößen. oder verloren gegangene 
Einrichtungen mit Rücksicht auf ıhre löblichen Zwecke ohne 
weiteres zu erneuern. Mystisch und unklar ıst die Lehre, die 
meint, ein Volk brauche sich nur auf seine Vergangenheit zu 
besinnen, um kraft der Einheit seines geschichtlichen Lebens 
Dahingegangenes zu neuem Dasein zu erwecken. Aus diesem 
Irrtum sind ja die meisten praktischen Sünden der historischen 
Schule zu erklären. Nur wo das Volksleben der Gegenwart in 
gedeihlicher Weise Institute der Vergangenheit in sich aufnehmen 
kann, wird der Versuch einer solchen Erneuerung gelingen. Sie 
ist aber keineswegs Fortentwicklung, sondern Rezeption des Ver- 
gessenen und daher Fremdgewordenen, das in diesem Rezeptions- 
prozeß vermöge der geänderten Umstände, die ihn begleiten, 
ohne Wandel des ursprünglichen Zweckes nur selten durch- 
zuführen ıst. 
Aber auch manche der letzten und höchsten Prinzipienfragen 
der Sozialwissenschaften erhalten durch die Einsicht ın das Wesen 
des gesellschaftlichen Zweckwandels eine Beleuchtung, die zu- 
gleich überrascht und aufklärt. Namentlich gilt das für die
	        
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