Full text: Allgemeine Staatslehre

Zweites Kapitel. Die Methodik der Staatslehre. 47 
grundsätzliche Auffassung der ganzen sozialen Entwicklung über- 
haupt: und der Staats- und Rechtsgeschichte insbesondere. Vou 
alters her stehen sich hier zwei Grundanschauungen schroff 
gegenüber. Die eine, heute fast gänzlich verlassen, behauptet 
bewußte primäre Schöpfung des Staates, des Rechts, der sozialen 
Institutionen, die andere, heute herrschende, sieht in diesem 
Prozeß einen natürlichen, von höheren, dem Individuum un- 
erschütterlich gegenüberstehenden Kräften beherrschten Vorgang. 
Beide prinzipielle Anschauungen haben unrecht. Die erste stellt 
sich in schroffen Gegensatz zu aller geschichtlichen .Erkenntnis, 
wenn sie den isolierten, bisher von der Kultur noch gar nicht be- 
rührten Menschen mit klarem, zwecksicherem Bewußtsein das 
schaffen läßt, was nur der Niederschlag der Erkenntnisse von 
Jahrtausenden sein kann. Der Mangel der Erkenntnis des Zweck- 
wandels der sozialen Institutionen ist einer der Grundmängel des 
Naturrechts gewesen. Aber derselbe Mangel haftet ın entgegen- 
gesetzter Richtung der anderen Theorie an. Indem sie die natür- 
liche Schöpfung von Staat und Recht behauptet, sei es aus einem 
mystischen Volksgeiste, sei es durch die Wirkung blinder Macht: 
verhältnisse, übersieht sie die fundamentale Tatsache, daß keine 
Institution ohne menschlichen zweckbewußten Willen entstehen 
kann. Die Befriedigung des Nahrungs-, Wohnungs-, Sicherheits- 
bedürfnisses auch der unkultiviertesten Völkerschaften vollzieht 
sich stets im Lichte des Bewußtseins. Alle Institutionen und 
Bräuche solcher Völkerschaften haben ursprünglich stets einen 
bewußten Zweck, der vielleicht töricht und schädlich, aber mit 
psychologischer Notwendigkeit da ist. Neuere Forschungen haben 
ja ın diesem Bereiche umfängliches Material gesammelt. Selbst: 
verständlich aber ist die bewußte Absicht unkultivierter Epochen 
nicht auf das gerichtet, was erst die an sie sich allmählich an- 
schließende Kultur gezeitigt hat. Die.einmal geschaffenen Insti- 
tutionen, Sitten, Gebräuche ändern allmählich ihre Zwecke; neue 
Zwecke treten hinzu und überwiegen häufig die alten gänzlich 
oder drängen sie in den Hintergrund, und so entstehen durch 
entwickelnde und ändernde Zweckwandlung Einrichtungen, wie 
sie dıe Vorzeit nicht einmal geahnt hat.: Es greift daher das, 
was mit Bewußtsein geschaffen wurde, im Laufe der Entwicklung 
weit über das 'schaffende Bewußtsein hinaus, und nur insoweit 
ist die Behauptung richtig, daß Staat und Recht in ihren Grund- 
lagen nicht bewußte Menschenschöpfung seien..
	        
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