Full text: Allgemeine Staatslehre

Zweites Kapitel. Die Methodik der Staatslehre. 49 
Prozeß liegt, je weniger Urkunden über ihn in seinen Einze]- 
heiten vorliegen, desto mehr dient er den Anhängern einer 
organischen ‚Staats- und Gesellschaftslehre zum Beweis ihrer 
Fypothesen. ‚Was hingegen im Lichte des historischen Bewußt- 
seins, also namentlich in der neuesten Zeit entstanden ist, das wird 
häufig als unorganisch bezeichnet und damit verworfen. Die alten 
Institutionen sind aus diesem Grunde häufig die organischen, 
die neuen, deren Entwicklungsprozeß klar zutage liegt, die 
mechanischen. Je weiter aber historische Forschung dringt, desto 
mehr bestätigt sie uns das, was selbstverständlich sein sollte, daß 
alle Institutionen bewußten Willensakten ihren Ursprung ver- 
danken, durch Zweckwandel jedoch von ihrem ersten Entstehungs- 
grund sich loslösen und dadurch den Anschein von Bildungen 
erlangen, deren Dasein vom ınenschlichen Willen unabhängig ist. 
Neben der Änderung durch Zweckwandel wirkt aber noch 
ein anderer Umstand auf die eigentümliche Ausgestaltung sozialer 
Institutionen. Wenn nämlich auch die Handlungen notwendig 
einen Zweck haben, so wirkt doch nicht jede Handlung den vor- 
gesetzten Zweck oder ausschließlich diesen Zweck aus. Jede 
Handlung kann soziale Wirkungen haben, die sich nicht be- 
rechnen, ja oft nicht einmal ahnen lassen. Kraft der ungeheuren 
Mannigfaltigkeit und Verwicklung der sozialen Verhältnisse ist 
menschliches Tun auch die Quelle unbeabsichtigter Wirkungen. 
Die Wirkungen neuer Rechtssätze, neuer Behörden, neuer 
Steuern, der Haltung parlamentarischer Parteien, eines Handels- 
vertrages, einer Kriegserklärung, einer Gebietszession, eines 
Friedensschlusses usw. lassen sich zum voraus niemals ganz be- 
rechnen. Alle diese Vorgänge haben nächste, unmittelbare 
Zwecke, die ihren ÜUrhebern wohlbewußt sind. Nicht aber 
können diese wissen, ob sie diese Zwecke auch erreichen, ob 
nicht anderes, Erwünschtes oder Ungewünschtes, daraus entsteht. 
Ja, bei der inneren Verkettung alles sozialen Geschehens kann 
die Wirkung eines für seine Urheber streng teleologisch determi- 
nıerten historischen Aktes über alles Maß des der Ahnung Zu- 
gänglichen hinausgehen. Man denke nur an die großen Ent- 
scheidungsschlachten der Weltgeschichte, deren Folgen in dem 
ganzen ferneren Verlauf der, Menschenschicksale in einer den 
Kämpfern notwendig verborgenen Weise zutage treten. Jede 
neue technische Erfindung hat unberechenbare Wirkungen, jeder 
Fortschritt in der wirtschaftlichen Produktion zeitigt neben den 
G. Jelilnek, Allg. Staatslehre. 3. Aufl. 4
	        
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