Einundzwanzigstes Kapitel. Die Staatenverbindungen. 019
zu widerrufen, rechtlich begründen? Wo ist die unbezweifelte
völkerrechtliche Lehre — nur um eine solche kann es sich ja
handeln —, die derartiges als absolut verboten hinstellen könnte?
Warum soll nicht einmal das Reich aufgelöst werden, um ein
neues mit einem anderen Reichstag an die Stelle zu setzen? Diese
rechtlich nicht zu diskutierende Theorie ist ja auf Grund der
Lehre von der vertragsmäßigen Entstehung des Deutschen Reiches
zu politischen Zwecken aufgestellt und erörtert worden!). Das
Reich ist uns ein Staat und der Austritt aus dem Reich, die
Auflösung des Reichs uns rechtlich unmöglich, weil wir davon
überzeugt sind, daß das Reich ein Staat ist. Diese auf eine ge-
schichtliche Tatsache gegründete Überzeugung liegt allen juristi-
schen Deduktionen von der Entstehung des Reichs zugrunde,
die aber ihr nichts Neues hinzuzufügen vermögen. Wem das
Reich aber kein Staat ist, der wird auch für diese Überzeugung
seine Theorie finden, wie ja der Gegensatz der Grundanschan-
ungen über die Natur des Reiches zeigt. Bei allen Staatsrechts-
lehrern, die das Reich juristisch konstruieren, war zuerst die
politische Überzeugung von dessen Natur vorhanden, zu der
hierauf die juristische Rechtfertigung gesucht wurde.
Die Glieder des Bundesstaates sind entweder bei seiner
Gründung vorhanden oder treten später in ihn ein. Letzteren
Falles sind zwei Möglichkeiten zu unterscheiden. Entweder die
neueintretenden Grliedstaaten stehen bisher außerhalb des Bundes-
staates. Dann erfolgt der Eintritt auf Grund eines Unterwerfungs-
vertrages mit dem Bundesstaate; kann durch Vertrag auch kein
neuer Staat entstehen, so hindert doch nichts, daß durch Vertrag
ein Staat sich einem anderen, bereits bestehenden unterwirft.
Die Staatsschöpfung ist nie, der Eintritt eines Staates in einen
1) Vgl. die energische Ablehnung einer solchen Ansicht bei Zorn
Reich und Reichsverfassung 1895 S. 3ff. Sie ist neuestens von v. Jage-
mann, Die deutsche Reichsverfassung 14 S.30ff.,, zu einem be-
stimmten politischen Zweck (Möglichkeit einer Verfassungsänderung ohne
den Reichstag) vertreten worden und hat allseitig die schärfste Zurück-
weisung erfahren. Immerhin zeigt sie, welch gefährliches Spiel mit der
in sich widerspruchsvollen Lehre von der vertragsmäßigen Entstehung
des Reiches getrieben werden kann. O.Mayer, der (Arch. £.öff.R.
XVII S.364) das Reich für einen Monarchenbund erklärt, findet (S. 370)
die Garantie des Reiches in der Bundestreue der Fürsten: eine Gewähr
schwächster Art, wie die Geschichte des Deutschen Bundes deutlich
gelehrt hat!