Full text: Allgemeine Staatslehre

Drittes Kapitel. Die Geschichte der Staatslehre. 59 
es sich aber in erster Linie um die Frage, wie der Staat am 
zweckmäßigsten zu gestalten sei, und welche Stellung das Indi- 
viduum zu ihm einzunehmen habe. Damit ist die Grundlage 
für jene Richtung in der Staatslehre gegeben, die als deren vor- 
nehmstes Objekt die Erforschung des Idealtypus des Staates be- 
trachtet. Nicht: Was ist der Staat? sondern: Wie soll er be- 
schaffen sein? lautet die erste Frage, die dem wissenschaftlichen 
Bedürfnis nach staatlicher Erkenntnis entstammt. Schon von 
Männern, die nicht unter dem Einflusse der sokratischen Lehre 
standen, wie Phaleas von Chalkedon und Charondas von Milet, 
sınd Fragmente der Konstruktion von Staatsidealen überliefert. 
In der Blütezeit der griechischen Philosophie aber steht der beste 
Staat als vornehmstes Objekt der politischen Spekulation da. 
Am klarsten tritt dies hervor bei Plato, dessen große politische 
\Werke der Darstellung des besten und des nächstbesten Staates 
gewidmet sind. Auch bei Aristoteles ist nach der ganzen 
Anlage seines Systems die Erkenntnis des besten Staates das 
letzte Ziel der ganzen staatswissenschaftlichen Forschung: der 
Staat, der den ihm einwohnenden Zweck am besten erfüllt, bildet, 
wie das sittlich Erstrebenswerte überhaupt, den wichtigsten 
Gegenstand der praktischen Erkenntnis. In den nacharistotelischen 
Schulen bis zu den letzten Ausläufern der antiken Staatswissen- 
schaft ist gemäß der diesen Svstemen innewohnenden Tendenz das 
theoretische Interesse an der Erkenntnis gänzlich geschwunden 
und vielmehr das praktische politische Interesse des Individuums 
in den Vordergrund gerückt. Damit ist von neuem das Staats- 
ideal vornehmster Gegenstand der Forschung geworden. Wie 
muß der Staat beschaffen sein, an dem der Weise teilnehmen 
kann? lautet die politische Grundfrage der nacharistotelischen 
Staatswissenschaft. 
Neben dieser auf den staatlichen Idealtypus gerichteten 
Spekulation geht aber einher eine der staatlichen Wirklichkeit 
zugewendete Richtung. Das Ideale kann ja von Grund aus nur 
erkannt werden durch seinen Gegensatz. Die Realität mit ihren 
Fehlern muß dem lebendig vor Augen stehen, der bessern soll. 
Ohne Kritik des Gegebenen ist keine Änderung der Institutionen 
möglich. Solche, zunächst wohl nicht systematische und schul- 
gerechte Kritik war bei der reichen Entfaltung des athenischen 
öffentlichen Lebens selbstverständlich. Namentlich die Sophisten 
haben nicht nur tiefeinschneidende Kritik geübt, sondern auch
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.