56 Erstes Buch. Einleitende Untersuchungen.
eine Lehre vom realen Staate entwickelt. Manches, was der
platonischen und aristotelischen Staatslehre zugeschrieben wird,
dürfte aus der früheren Zeit stammen, deren politische Literatur
uns leider nur in wenigen Bruchstücken aufbewahrt ist!).
Es finden sich bereits bei Plato eingehende Erörterungen,
die der Erkenntnis des Werdens, Seins und Wandelns der vor-
handenen Staaten gewidmet sind. In energischer und folgen-
reicher Weise wendet sich aber Aristoteles, der das ganze Gebäude
der praktischen Wissenschaften auf der Erforschung des Gegebenen
errichten will, der sorgfältigsten Untersuchung der vorhandenen
Staatenwelt. als einer unumgänglichen Vorarbeit für die Lösung
jener höchsten praktischen Fragen zu. Damit wird er der Schöpfer
der systematischen wissenschaftlichen Staatslehre, die als theo-
retische Wissenschaft neben der praktischen Politik steht, die
ein noch nicht seiendes Bestes zu verwirklichen sucht. In gründ-
licher Weise werden dieempirischen Typen der damaligen Staaten-
welt aufgesucht und ihre Unterabteilungen festgestellt, da die
Wirkung undividualisierender Faktoren wohl erkannt und be-
achtet wird. Nicht nur Typen des Daseins, sondern auch der
Lebensprozesse der Staaten werden aufgestellt; das Staatsleben
wird unter bestimmten teleologischen Gesichtspunkten betrachtet
und damit der Grund zu einer wissenschaftlich vertieften Real-
politik gelegt. Die einzelnen Disziplinen der Staatslehre werden
aber noch nicht unterschieden; vielmehr sind alle Betrachtungs-
weisen des Staates in der Politik vereinigt. Dieses Wort be-
deutet, wie bereits erwähnt, im Griechischen Lehre von der Polis,
ist nicht mit unserem Terminus Politik zu identifizieren, sondern
mit Staatswissenschaft zu übersetzen.
Einzelne der Staatslehre zuzuzählende Untersuchungen sind
auch noch in der späteren antiken Literatur vorhanden, so vor
allem die allerdings auf die politische Apologie des römischen
Staates hinauslaufende Skizze der Staatslehre bei Polybius,
wie denn auch bei Cicero sich manche, meist der griechischen
Lehre entlehnte Bemerkungen über Staat und Staatsformen finden.
Die Literatur der christlich-mittelalterlichen Epoche ist von
dem Gedanken einer wissenschaftlichen Staatslehre weit entfernt.
Noch mehr als dem Altertum erscheint ihr das Seinsollende als
das Wissenswürdigere gegenüber dem Seienden. Die realen
1) Vgl. Rehm Geschichte S. 14 £f.