Full text: Allgemeine Staatslehre

Drittes Kapitel. Die Geschichte der Staatslehre. 57 
politischen Verhältnisse, der Bau der gleichzeitigen Staatenwelt 
liegt ihrer Betrachtung so fern, daß man aus ihr von den eigen- 
tümlichen Institutionen jener Zeiten nichts oder nur sehr wenig 
erfährt. Was nicht die große rechtliche und politische Frage 
des Zeitalters, die Stellung der weltlichen zur geistlichen Gewalt 
berührt, wird in seiner Eigenart nicht beachtet. Es sind wesent- 
lich die aus dem Altertum überkommenen Begriffe und Schablonen, 
die in dieser Literatur variiert werden, soweit sie überhaupt in 
den Rahmen der christlichen Weltanschauung passen. Dazu 
kommt aber noch der Einfluß römisch-rechtlicher Vorstellungen, 
die, niemals ganz erstorben, dem allgemeinen Bewußtsein durch 
die Legisten vermittelt werden. Der Ausbildung einer selb- 
ständigen Staatswissenschaft ist vor allem hinderlich der Mangel 
eines offiziell anzuerkennenden Staates. Das alte römische Welt. 
reich hatte in Form des von Kaiser und Papst beherrschten 
mittelalterlichen Reiches seine Fortsetzung gefunden, in welchem 
die einzelnen Glieder nicht als Staaten im vollen Sinne gelten 
konnten. So hat denn das Mittelalter eine an politischen Eır- 
örterungen reiche, an selbständigen theoretischen staatswissen- 
schaftlichen Untersuchungen und Resultaten arme Literatur. 
Unabhängig von dieser Literatur erhebt sich aber eine neue, 
die der Jurisprudenz. Sie ist ihrer Natur nach den realen Ge- 
staltungen des Lebens zugewendet. Ihr fehlt als Objekt der 
klare, in den gegebenen Verhältnissen begründete Staatsbegriff. 
Dafür ist sie aber dem ‘reichen weltlichen und kirchlichen Ge- 
nossenschaftswesen jener Zeiten zugekehrt. Die romanistische 
und kanonistische Korporationstheorie, auf deren Bedeutung in 
der Geschichte der Staatslehre hingewiesen zu haben das große 
Verdienst Gierkes ist, enthält tiefgreifende Erörterungen, die 
später ın der selbständig gewordenen Staatslehre fortgebildet 
werden. Diese Korporationslehre vollzieht einen gewaltigen Um- 
schwung in der ganzen wissenschaftlichen Stellung der theore- 
tischen staatlichen Probleme. Hatte das Altertum und die auf 
seinem Grunde stehende scholastische Literatur den Staat in letzter 
Linie als ein zu verwirklichendes Ideal aufgefaßt, mündet also 
ihr ganzes staatswissenschaftliches Denken in politische Unter- 
suchungen, so wird hier eine rein theoretische Anschauung vom 
Staate vorbereitet, die ihn wesentlich als Rechtsgebilde erkennt. 
Die Lehre vom Staate wird damit ein Teil der Rechtswissenschaft, 
ein Gedanke, der dem Altertum ferngelegen hat. Ist auch die
	        
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