60 Erstes Buch. Einleitende Untersuchungen.
Die Forderung der durchgängigen Trennung des Juristischen
vom Politischen wird jedoch in der naturrechtlichen Literatur
keineswegs strikte durchgeführt. Das praktische Interesse über-
wiegt das theorelische so sehr, daß auch die schulgemäße Natur-
rechtsichre an dem Kampfe um Neugestaltung der staatlichen
Verhältnisse teilnimmt, ja eine der großen geistigen Mächte in
diesem Prozesse der Neugestaltung wird. Der Einfluß, den Pufen-
dorf, Thomasius, Wolff und schließlich Kant auf das politische
Denken ihrer Zeiten gewonnen haben, war nicht viel geringer
als die Wirkung der Schriftsteller, die unmittelbar den praktischen
Zweck ihrer Lehren in den Vordergrund stellten, wie Locke und
Rousseau.
Nach dem Falle der Vorherrschaft der naturrechtlichen
Schule erlebt das in eine ausgesprochene politische Tendenz aus-
laufende allgemeine Staatsrecht eine Nachblüte in dem allgemeinen
konstitutionellen Staatsrecht. Montesquieu hatte in seinem
berühmten ‚esprit des lois‘“ cın diesseitiges politisches Ideal in
dem Staate gefunden, dessen Zweck die politische Freiheit seiner
Bürger ist, und damit England als das konstitutionelle Musterbild
hingestellt. Die englischen Institutionen in der Form, wie sie
in Frankreich verstanden und nachgeahmt werden, geben Anlaß
zu einer Lehre von dem konstitutionellen Musterstaate, namentlich
auf Grund der Ausführungen von Mirabeau, Sieyes und
Benjamin Constant. Dieses allgemeine konstitutionelle Staats-
recht, in zahlreichen französischen und deutschen Werken vor-
getragen, hat wiederum große Wirkung auf die praktische Politik
gehabt, indem es die Grundlage des Programmes der liberalen
Parteien, so auch namentlich in Deutschland, geworden ist.
Der große Umschwung im wissenschaftlichen Denken, der
sich am Ende des 18. und am Anfange des 19. Jahrhunderts voll-
zieht, äußert sich auch in den Staatswissenschaften. Zwar bestehen
die alten Richtungen und Tendenzen fort. Politische Schrift-
steller, oft von großem praktischem Einflusse, stellen von neuem
Idealtypen des Staates auf, deren Verwirklichung in das Programm
der politischen Parteien aufgenommen wird. Daneben aber erhebt
sich, dem geschärften wissenschaftlichen Sinne der neuen Zeit
entsprechend, die Forderung objektiver Erkenntnis des historisch
Gewordenen, des vorhandenen Staates. Die Bearbeitung neuer
Wissensgebiete, die mit dem Staatsleben in innigem Zusammen-
hange stelien, läßt dessen Probleme von neuen Standpunkten