Kriegserklärung nach deutschem Völkerrecht. 105
Zwar führt ein Staat, der zu den Waffen greift, um eine
erlittene Verletzung zu fühnen, einen Verteidigungskrieg im mo-
ralischen Sinne. Aber vom militärischen und rechtlichen Stand-
punkte aus ist er der Angreifer. So haben z. B. die südafri-
kunischen Republiken 1899 einen Verteidigungskrieg im mo-
ralischen Sinne gegen England geführt; aber rechtlich haben
sie durch das von ihrem Präsidenten Krüger an die englische
Regierung gerichtete Ultimatum „angegriffen“, den Krieg er-
öffnei.
Die Identifizierung des militärischen Begriffes mit dem
rechtlichen Begriff Angriffs= oder Verteidigungskrieg unter Aus-
schaltung aller politischen Momente scheint mir auch aus dem
Grunde nicht unzweckmäßig zu sein, weil es eine viel zu schwie-
rige Aufgabe sein würde, die wahre Ursache des Krieges fest-
zustellen und zu entscheiden, welcher Staat Anlaß zum Kriege
gegeben und somit als der moralische Urheber desselben zu
gelten habe. „Praktisch betrachtet ist es unter den Kriegfüh-
renden regelmäßig zweifelhaft und jedenfalls mindestens be-
stritten, auf wessen Seite das Recht ist.“ 1) Ferner entspricht
die neuc Bestimmung der Kriegserklärung einem praktisch wie
rechtlich notwendigen Bedürfnis der Sicherheit. Ohne ein Wert-
urteil darüber zu fällen, wer der moralische Angreifer ist, sagt
das Völkerrecht: Wer angreift, soll dies erklären. Indem es
jedem Staate das Kriegführungsrecht zugesteht, überläßt es somit
dem Einzelnen, von diesem Rechte nach seinem Gutdünken Ge-
brauch zu machen. Das Kriegführen ist nämlich eine spezifische
Aeußerung der Souveränität der Staaten.
M. E. muß demnach ein Staat rechtlich „dadurch zum An-
greifer werden, daß er in der Führung des notwendig gewor-
denen Kampfes den ersten äußeren Schritt tut.“2) Nur der
Angreifer in diesem Sinne hat die Pflicht zur Kriegserklärung.
II. Im Falle eines Bündniskrieges.
Die oben gegebene Unterscheidung von Angriffs= und
Verteidigungskrieg ist weiterhin völkerrechtlich von Bedeutung
für den Fall, daß auf einer oder beiden Seiten Verbündete
1) Ullmann, c. a. O. 8§ 166.
2) Gegenteiliger Ansicht Lueder in Holtzendorffs Handbuch IV § 59.