VI. Buch. Die Gesamtentwicklung der deutschen Indufptrie. 221
Industrie den Zusammenschluß: das Rohstoffgewerbe beruht auf Massenproduktion,
wobei sich die einzelnen Erzeugnisse wenig voneinander unterscheiden. Ein Einverständnis
Üüber ihre Tarifierung läßt sich also verhältnismäßig leicht unter den sich organisierenden Fir-
men finden, da es sich dabei fast nur um Quantitäten, jedoch weniger um qualitative Unter-
schiede handelt (z. B. bei der Kohle und beim Roheisen). Die einzelnen Firmen werden
chis um so eher zusammentun, als ihre Massenproduktion die Festlegung großer Kapitalien
erfordert und so das Risiko bei den Wandlungen der Konjunktur um so größer ist.
Oiese Erstarkung der Rohstoffgewerbe, ihre Ubersichtlichkeit und das Schematisch-
Gleichmäßige an ihnen haben immer wieder die Blicke auf sie gezogen, so daß man
sich die deutsche Großindustrie fast nur noch durch die schwere Industrie repräsentiert
zu sehen gewöhnt hat und dabei zu wenig beachtet, welchen großen Anteil die Fertig-
waren- und eigentliche Veredelungsindustrie am wirtschaftlichen Aufschwunge Deutsch-
lands genommen hat. In ihr kann man freilich nicht in gleichem Maße die Zentrali-
sation und Konzentration und die Verbandsbildung auf dem Markte studieren wie
bei jenen. Hier beruht der Fortschritt weniger auf schematischer und mechanisierter
Massenproduktion, auf Aufrichtung einer mehr oder weniger bureaukratischer Organi-
sation; hier sind Kartelle selten und meist nur kurzlebig oder sehr locker, hier ist jede der
zahllosen Branchengruppen, ja jede Firma ein individuelles Gebilde, an dem die per-
sönlichen Seiten stark hervortreten. Sie genießen auch meist viel weniger den Groß-
kredit Berliner Zentralbanken. Für sie gilt noch mehr der Vorteil und der Nachteil der
atomisierten freien Konkurrenz. Sie müssen die Spezialitäten pflegen und sich oft
unter mühevollen, immer wieder neu einsetzenden Versuchen den großen Markt erobern
für Produkte, die oft leicht durch andere ersetzt werden können. Kann man an der Ent-
wicklung der schweren Industrie die modernen Tendenzen zur Konzentration und Mechani-
sierung des Verkehrs studieren, so verdeutlicht die Qualitäts- und Verfeinerungsindustrie
mehr die andere Seite der modernen Industrieentfaltung, wie man nämlich „auch im
Dienste des Kleinen (z. B. in unscheinbaren Dingen des täglichen Gebrauchs) vermittels
der spezialisierten Massenerzeugung einen Weltartikel ins Leben rufen kann“ (Hubery).
Ein vom Gesichtspunkte der Produktionsbedingungen günstig gelegener Fabrikations-
ort wird das Zentrum für die Herstellung und den Vertrieb einer bestimmten Fertig-
ware nach allen Richtungen und über weite Gebiete, womöglich über die ganze Erde
hin. An solchen Industrien läßt sich die grundlegende Bedeutung der Verkehrsentwicklung
für das Großgewerbe deutlich erkennen. Ohne weite Absatzmöglichkeiten, wie sie gerade
die Entfaltung des Eisenbahnwesens und der Schiffahrt, die Handelsverträge und die
Politik des Friedens in den letzten 23 Jahren geschaffen haben, sind solche Verfeinerungs-
gewerbe unmöglich. Sie benötigen ferner eines großen Reklameapparates, guter kauf-
männischer Beziehungen durch Reisende, Agenten und Vertreter; Anpassungsfähigkeit an
die Bedürfnisse der Kundschaft, Berständnis für die Konjunkturbedingungen und Prompt-
1) Die Festschrift zur Feier des 50jährigen Bestehens der württembergischen Handelskammer, 2. Teil:
Großindustrie und Großhandel in Württemberg, verfaßt von dem verstorbenen Professor Dr. F. C. Huber,
der (von S. 57) das obige Zitat entnommen ist, enthält sehr lehrreiche Darlegungen; die darin ausgesprochene
Auffassung der industriellen Entwicklung berührt sich vielfach mit den obigen Ausführungen.
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