Von Gewahrsam und Besitz. 365
8. 223. Der unredliche Besitzer muß die Sache mit allen vorhandenen Fruͤchten
sKänden jedes einzelnen Falles erkannt, nicht aus der Kenntnißnahme von dem Inhalte einer Klage
gesolgert werden kann. Es wird oft während des ganzen Prozesses sehlen, bisweilen selbst durch das
verurtheilende Erkenntniß noch nicht entstehen, namentlich in den Fällen einer ungerechten, d. h. hier
einer irrigen Verurtheilung, woran die Gerichtspraxis gar nicht so arm ist, wie die Panegqyriker der
pr. Justizverwaltung glauben. Die willkürliche Behauptung Tevenar's, daß jeder nicht rechtmä-
Kßige Besitzer ans der insinuirten Klage sein Unrecht abnehmen und einsehen könne und solle (Simon
a. a. O. S. 171), widerlegt sich schon durch die Erfahrung, daß manche Klage in erster Instanz
für güllig erkannt und in Jwerer Instanz abgewiesen wird. In solchem Falle müßte denn der ganz
redliche Besitzer durch die Insinuation der Klage ein unredliches Bewußtsein erhalten, und mit dem
Urtel zweiter Instanz, welches die Klage ganz mit Unrecht abweiset, also keine Überzeugende Kraft
für den besser Wissenden haben kann, die Redlichleit des in der That unrechtmäßigen Besitzers her-
vorbringen, und so umgekehrt. Der Ausspruch des §. 222 stimmt mit der Lehre vieler neueren Ci-
vilisten Überein, welche die Vertreter der beiden, mit dem wahren R. R. nicht Übereinstimmenden,
Meinungen sind: 1. daß die mala üfides eine allgemeine Folge des Prozesses, und 2. auf den Zeit-
punkt, wo der Besitzer von dem Anspruche Nachricht bekommt, zurückzuführen sei. Diefe Lehre ist
von Einfluß auf die Gesetzgebung gewesen. Man ist jedoch erst nach und nach auf den absoluten
Satz des §. 222 gekommen. Anfangs hatte man Bedenken, die Unredlichkeit ohne Weiteres zu fin-
Lirrn und man wollie den Tag der Publikation des verurtheilenden Urtels, in einem Entwurse, als
nfang der Unredlichkeit vorschlagen. Dieser Bestimmung widersprach v. Tevenar und forderte den
der insinuirten Klage. Damit erklärte Suarez sich völlig einverstanden, „denn in der Regel
muß doch der Besitzer ans einer gehörig instruirten Klage die Unrechemäßigkeit seines Besitzes schon
ersehen können.“ Uebrigens, fügte er bei, ist es ja dem Nichter überlassen, den Anfang der Unred-
lichkeit nach den Umständen auch anders zu bestimmen. (Simon a. a. O. S. 171.) Damit war
die beabsichtigte Besimmung entkrästet, denn es kam darnach auf die thatsächliche Wirklichkeit der Un-
redlichkeit an. Dieser Beschränkung entsprechend lautete die Bestimmung in dem gedruckten Entwurse:
„Wenn kein früherer oder späterer Zeitpunkt — ausgemittelt worden“ u. s. w. Th. II, Tit. 4,
#§. 153. Dadurch ward mit der Insinnation nur eine Präsumtion verknüpft. Dagegen sagte Goß-
ler: Ueberzeugung ist ein Internum, worauf der Gesetzgeber sich nicht einlassen kann (ebd. S. 321);
die Alternative („oder späterer") möge weggelassen werden (ebd. S. 322). Nun erhielt die Bestim-
mund die Lassune des §. 222, wodurch aus der früher vorgeschlagenen Präsumtion eine Fiktion
der Unredlichkeit geworden ist, ganz so, wie es jene neueren Romanisten lehrten und auch bloß zu
dem Zwecke, um als Rechtsgrund zu dienen für die (nach NR. R. durch die Litiskontestation gegrün-
dete) Berbindlichkeit des Lellogen zur Herausgabe der omnis cansa. Bergl. die saig- s. 223 — 228.
In gleicher Weise wie jene Vorbilder läßt die pr. Gesetzgebung auch die Mora, ebenso wie die Fik-
tion der Unredlichkeit, durch die Insinuanon der Klage entstehen. Pr.-O. Tit. 7, 5. 484; und V. K. I.
16, §. 18. Beide Wirkungen stehen nebeneinander; es ist nicht die eine der Erklärungsgrund der
anderen. (A. M. ist das Obertr. Entsch. Bd. XX, S. 109.) Diese gang positiv vorgeschriedene Fik-
tion kann mit keiner anderen Handlung als nur mit der Insinuation einer Klage, an welche solche
der Gesetzgeber gekulipft dat, in Verbmdung gebracht werden, weil absolute Vorschriften keiner ana-
logen und ausgedehnten Anwendung fähig sind. Durchaus gerechtfertigt ist daher das Pr. des Obertr.
2274, v. r 1851: „Die Vernichtung eines mit der Nichtigkeitsbeschwerde angegrifsenen Zu-
schlagserkenntnisses begründet für den Adjudikatur nicht schon mit der Insinuation der Nichtigkeitsbe-
schwerde die Verpflichtungen eines unredlichen Besitzers. Derselbe ist vielmehr bis zu dem die Ver-
nichtung aussprechenden Urtel für einen redlichen Besitzer zu achtrn.“ (Entsch. Bd. XX, S. 106.)
Der Ansang der Unredlichkeit in diesem Falle ist der Tag der Publikation, wenn der Implorat dabei
anwesend ist, sonst der Tag der Infinuation. 6
Die Fiktion des #3. 272 ändert sich Übrigens dadurch nicht, daß in erster Instanz die Klage ab-
Fwessen, und der Beklagte erst in letzter Instanz verurtheilt worden ist. Die Frage hatte auch ein
onent gethan, mit dem Vorschlage, in diesem Falle erst mit dem Tage des letzten Urtels die mala
fies eintreten zu lassen. Goßler aber bemerkte darauf: „Hat zwar einigen Schein, es bleibt aber
immer am baben den Zeitpunkt des Gesetzes ohne weiteren Unterschied anzunehmen.“ (Simon
a. u. O. S. 311.
(4. A.) Uebrigens betrifft die Vorschrift des §. 222 nicht lediglich den Fall der Vindikation einer
einzelnen Sache; er entdält vielmehr die ganz allgemeine Regel der Begründung der Unredlichkeit des
Besitzes durch die Insinuation der Klage, auch der Klage auf Anerkennung dee Erbrechts des Klägers
gegen den Erbschaftsbesitzer. Erk. des Obertr. v. 22. Febr. 1854 (Arch. f. Rechtsf. Bd. XII, S. 157).
(5. A.) Die Anwendung der Bestimmung des §. 222 setzt voraus, daß die Verpflichtung des
Beklagten als unredlichen Besitzers zur unbedingten sofortigen Räumung konstatirt oder auerkannt wird,
und es sich nur darum handelt, den Anfang seiner Unredlichkeit festzustellen. Dieser Fall liegt da
nicht vor, wo der Nichter selbst erkaunt hat, daß der Besitzer keinesweges unbedingt, sondern den
Besitz nur Zug um Zug gegen die im Urtheil näher bezeichnete Erstattung von Auslagen, also un-