Full text: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten. Erster Theil, Erster Band. (1)

1. Von den Gesetzen überhaupt. 55 
§. 47 und 48. Fallen weg 525). 
Anh. s. 2. Findet der Richter den Sinn des Gesetzes zweiselhaft, so liegt es ihm zwar ob, 
den vorliegenden Fall nach den allgemeinen Regeln") wegen Auslegung der Gesetze zu entscheiden, 
matische Element der Auslegung an. Das fragliche Rechteverhältniß, auf welches sich das auszule- 
gende Gesetz bezieht, ist eine geschichtliche Erscheinmung, meistens älter als dieses Gesetz. Die Worte 
des Gesetzes haben daher eine bestimmte Beziehung auf den damaligen Zustand des Rechtsverhältnisses. 
Diesen Zustand muß man kennen, um die Beziehung, d. h. die Weise zu verstehen, in welcher das 
neue Gesetz in denselben eingreisen sollte. Dazu verhift die Geschichte; doch nicht für sich allein. Um 
˙die Beziehung auf den streitigen Gegenstand“, d. i. die Gestaltung des Rechtsverhältnisses durch das 
neue Gesetz zu erkennen, muß auch der innere Zusammenhang, in welchem das fragliche Rechtsverhältniß 
oder Institut mit anderen Rechtsgrundsätzen und dem ganzen Rechtespsteme steht, zur Auschauung ge- 
bracht werden. Das ist die Aufgabe des systematischen Elemems der Auslegung. Sonst machte 
man hicraus ebenso viel verschiedene Arten der Auslegung, Über deren Verhältuiß zu einander man 
zweiselhaft war; der heutige Stand der Rechtewissenschaft zeigt uns jedoch in diesen verschiedenen Thä- 
tigkeiten die Grundbestandtdeile der Auslegung, welche vereinigt wirken müssen. v. Savigny, System, 
1. 215. Der §. 46, welcher mit wenigen Worten ebendasselbe vorschreibt, ist ein Zeugniß des Ge- 
dankenreichthums und der sicheren Rechtskennmiß seiner Verfasser; er kennt und bezeichnet die Elemente 
der Auslegung schon ein halbes Jahrhundert vor ihrer allgemeinen Anerkennung. 
62) Der durch das „oder“ mit den vorher ausgezählten Dingen (Wort, Zusammenhang, Bezie- 
dung) in Verbindung gebrachte „Grund“ ist nicht Theil des Ganzen, sondern ein anderer Fall, welcher 
einmritt, wenn der erste mögliche Fall, daß die vereinte Thitigkeit der Theile der Auslegung nicht die 
Einsicht in den Inhalt des Gesetzes vollendet, nicht vorhanden ist. Denn dann ist das Gesetz mangel- 
dast und der „Grund“ ist ein Mittel, mangelhafte Gesetze zu erklären. S. die folg. Anm. 63. Vergl. 
auch I. 4, S. 146. 
63) Was hier unter „Grund des Gesetzes“ (ratio legis) verstanden wird, ist ungewiß. Die Ge- 
lehrten waren damals und sind noch jetzt Über den Begriff nicht einig. Einige verlegen ihn in die 
Vergangenheit und verstehen darumer den höheren Grundsatz, der das Gesetz beherrscht; Andere setzen ihn 
in die Hünt und meinen damit die beabsichtigte Wirkung des Gesetzes (Absicht, Zweck). Jede von 
beiden Bepehungen kann als Grund gewirkt haben. Ganz verschieden davon aber ist die sog. Veran- 
lassung — des Gesetzes. 
63#3) (3. A.) Dieselben lamen: 
#. 47. Findet der Richter den eigentlichen Sinn des Gesetzes zweifelhaft, so muß er, ohne die 
prozeßführenden Parteien zu benennen, seine Zweifel der Gesetzkommission anzeigen, und auf deren 
Beurtheilung antragen. 
S 48. Der anfragende Richter ist zwar schuldig, den Beschluß der Gesetzkommission bei seinem 
folgenden Erkenntnisse in dieser Sache zum Grunde zu legen; den Parteien bleiben ader die gewöhn- 
lichen Rechtsminel dagegen unbenommen. 
64) Diese hat der Gesetzgeber nicht vollständig vorgeschrieben, sie müssen daher, soweit der S. 46 
ungureichend ist, aus der Wissenschaft entnommen werden. Vorausgesetzt ist ein wirklich oder ver- 
meintlich mangelhaftes Gesetz, aus dessen Fassung mit den im S§. 46 bezeichneten Elememen kein un- 
zweifelhafter Inhalt gewonnen wird. v. Savigny (System I, §§. 35 ff.) giebt folgende Regeln: 
Die denkbaren Fälle maugelhafter Gesetze siud: 1. undestimmter Auedruck, der keinen in sich 
vollendeten Gedanken giebt; 2. unrichtiger Auedruck, welcher einen von dem wahren Gedanken des 
Gesetzgebers verschiedenen Gedanken bezeichnet. Die ersle Thätigkeit ist die Feststellung des Falles. — 
Hülsemittel sind: 1. Der innere Zusammenhang der Gesetzgebung, in nofern der man- 
gelhafte Theil des Gesetzes aus einem anderen Theile desselben Gesetzes oder aus einem auderen Gesetze, 
am sichersten aus einem Gesetze desselben Gesetzgebers, erklärt wird; doch dienen auch ältere Gesetze zur Er- 
klärung, weil der Geietzgeber solche gekannt hat. (L. 26, 27D. de leg. I, 3.) In den pr. Gesetzen wird 
dieses Hülfsmittels nicht gedacht, es ist aber das allernächste und in täglicber Anwendung. 2. Der 
Grund des Gesete. Auf dieses Hülssmittel verweist der S. 46 ausdrücklich, doch unter der sich von 
selbst verstehenden Bedingung, daß er unzweifelhaft (gewiß), wie z. B., wenn er in dem Gesetze selbst 
angegeben ist, und umier der Beschränkung, daß er der nächsie sei. Damit verhält es sich so: Die Gesetze 
su entweder regelrechte, d. h. solche, welche die Erkenubarkeit und Unbestreitbarkeit der Rechtsgrundsätze 
ichern sollen und sich auf höhere allgemeine Rechtsregeln beziehen Uus commune), oder absolute, ano- 
male Gesetze Gus singulore), d. h. solche, durch welche aus besonderen Gründen (politischen, staats- 
wirthschaftlichen oder sinlichen) etwas in der Zukunft erreicht werden soll — Steht das Gesetz zu dem 
bekannten Grunde in einem unmittelbaren logischen Berhältnisse wie der Grund zur unmittelbaren Folge: 
so ist dies der nächste Grund. Stehen beide entfernt, so wird der Grund, wenn er an sich auch 6t:n 
kanm ist, um so unsicherer, als die Zahl der Mitglieder zunimmt. Deshalb erkennt der §. 46 den 
entsernteren Grund nicht als Hülfsmitrel an; die Auslegung muß, ohne Gewicht darauf zu legen,
	        
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