Full text: Sagenbuch des Erzgebirges.

Felsblocke eine wunderschöne gelbe Blume stehen. Ei, dachte er, 54 
so schöne Blume habe ich in unseren Bergen und Thälern noch nicht 
gesehen! Ich werde sie pflücken und auf meinen Hut stecken, gewiß 
werden alle daheim die Schönheit der Blume bewundern. Gedacht, 
gethan. Kaum hatte er aber mit der Blume den Hut geschmückt, als 
unter einem fürchterlichen Knall sich der Berg aufthat. Der Hirt sah 
sofort eine weitgeöffnete Thür im Felsen, vor der ein kaum spannen- 
hohes Männlein stand, das ihm zu folgen winkte. Obwohl er durch 
diese unerwarteten, wunderbaren Vorgänge für den Augenblick aus 
der Fassung gekommen war, nahm er doch allen Mut zusammen und 
schritt seinem Führer nach. Der Weg ging erst durch dunkle, dann 
magisch erleuchtete Gewölbe, deren Wände diamantartig glitzerten, bis 
beide endlich in einen überaus prachtvollen Saal gelangten, der mit 
den kostbarsten Schätzen aller Art angefüllt war, und in dessen Mitte 
sich eine weißgekleidete Jungfrau befand. Diese betrachtete den er- 
staunten Hirtenjungen mit freundlichen Blicken und hub dann lächelnd 
an: „Hier hast Du die feinsten und auserlesensten Speisen, genieße 
von ihnen! Wohin Du blickst, sind ganze Haufen von Gold, Perlen, 
Edelsteinen und köstlichen Gewanden aufgeschichtet. Nimm Dir davon, 
soviel Dein Herz begehrt; doch vergiß das Beste nicht!“ Der Junge, 
durch die vernommenen Worte ermutigt, griff nach den besten Speisen 
und aß und trank, steckte sich hernach Hut und Taschen voll Gold 
und Edelsteine, und schickte sich zum Rückwege an. „Vergiß doch das 
Beste nicht!“ rief lauter und ängstlicher zum zweitenmale die Jung- 
frau mit flehenden Gebärden. Der Hirtenjunge spähte umher und er- 
blickte zu seiner Verwunderung eine Peitsche, welche vortrefflich zu 
seinem Geschäfte zu passen schien. Da dachte er: Du hast dir schon 
von allen Schätzen im Überfluß genommen; diese Peitsche da wird 
jedenfalls das Beste für dich sein! Mithin griff er ohne Bedenken 
nach der Peitsche. Da fing aber die Jungfrau bitterlich zu weinen 
und zu wehklagen an; ein plötzlicher Donnerschlag erschütterte den 
Saal so, daß der Boden unter den Füßen des Hirten wankte, der im 
Nu wieder auf der Oberfläche des Berges stand. Jetzt erst erinnerte 
er sich an seine Wunderblume. Mit Hast griff er an den Hut, um 
sie herabzunehmen, aber er bemerkte zu seinem größten Leidwesen, daß 
er sie unter den Schätzen im Felsensaale zurückgelassen habe. — Mit 
den Worten: „Vergiß doch das Beste nicht!“ hatte die Jungfrau die 
gelbe Blume, den Schlüssel zum verzauberten Schlosse gemeint. 
Hätte der Junge dieselbe nicht vergessen, so würde er nicht nur die 
Jungfrau von ihrem Zauber befreit, sondern auch den ganzen Schatz 
gehoben haben. Seit dieser Zeit hat niemand die Zauberblume, die 
  
292
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.