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Hierauf ging er zu dem Lindenbaume, welcher vor dem Hause des
Nachbars Paul stand, und schnitt sich einen Stab als treuen Gefährten
auf seiner Pilgerreise, die er trotz der Mutter inständigem Flehen
bei Anbruch des nächsten Tages antrat, um den Einsiedler Johannes
Niavis (Schneevogel), welcher im Erzgebirge ein frommes Leben führte,
aufzusuchen und mit ihm sich zu vereinigen. Georg beeilte sich, in
großen Tagesmärschen seine Reise zu vollführen. Und wirklich kam
er nach mehrtägiger, mühsamer Wanderung seinem Ziele so nahe, daß
er bis zu der einsamen Wohnung des Eremiten, welche um St. Albrecht
unter dem Wolfsberge bei Joachimsthal lag, wo der Schwarzgang
hinabstreicht, nur noch eine Viertelstunde Weges zurückzulegen hatte.
Da klang aus der Ferne das Ave-Maria-Glöcklein. Georg zog sein
Hütlein, kniete nieder und betete. Doch horch; leises Wimmern, kläg—
liches Stöhnen dringt an sein Ohr! Der Andächtige erhob sich und
eilte nach der Stelle hin, woher die Stimme ertönte. Er fand im
Gebüsche einen Israeliten liegen, der aus vielen Wunden blutete.
Ihn hatten Räuber, als er von seinem Hausierhandel nach Lichtenstadt
zurückkehren wollte, überfallen, mißhandelt und seiner Habseligkeiten
beraubt. Von tiefem Mitleid ergriffen, holte Georg in seinem Hute
aus der nahen Quelle Wasser, um den Todesblassen mit einem frischen
Trunke zu stärken und dessen klaffende Wunden auszuwaschen; allein
sein Liebesdienst war erfolglos, denn in wenigen Minuten hauchte der
Israelit seine Seele aus.
Während der Fremdling, ein wahrer Samariter, bei der Leiche
kniete und mutterseelenallein das Sterbegebet verrichtete, näherten sich
dem Thalorte eilige Schritte. Georg glaubte hülfreiche Unterstützung
zu erlangen, um den Leichnam nach einem andern Orte schaffen zu
können, und war deshalb sehr überrascht, als er von Schergen, die
ihn des verübten Mordes beschuldigten, ergriffen und gebunden wurde.
Dann führten sie den Unschuldigen nach der nahen Bezirksstadt Joachims-
thal, wo sie ihn ins Gefängnis warfen.
Georg beteuerte beim Verhöre seine Unschuld, allein seine Aus-
sagen wurden als freche Lügen hingestellt. Eher hätte er von den
Säulen, auf denen die Saaldecke ruhete, Gnade erflehen können, als
von den hartherzigen Richtern, welche ihn der vollbrachten Mordthat
schuldig erklärten und zum Tode durch Henkershand verurteilten.
Des andern Tages ertönte das Sünderglöcklein. Eine unzählige
Volksmenge hatte sich auf dem Marktplatze versammelt, denn alles
wollte den Mörder, der zum Galgen geführt wurde, sehen. Als die
Versammelten aber einen jungen Mann mit mildem Angesichte erblick-
ten, der einmal gen Himmel, das andremal auf seinen Lindenstab
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