D.S.W.A.15.1 07. — E an Gouv.v. Kamerun, betr. Eingeborenen-Zivilrechtspflege15.1.07._ 55
wird nach dem eingangs Erörterten durch ein derartiges Verfahren nicht
eigentlich neues Recht geschaffen werden können und dem Inhalt der erlassenen
Bekanntmachungen kann nicht die Bedeutung geschriebener Rechtsnormen bei-
kommen. Die Bekanntmachungen können im Grunde nur Hinweisungen auf be-
reits vorhandenes, nach Meinung der betreffenden Gcerichtsbehörde schon an sich
geltendes Recht enthalten. Da indes im dortigen Schutzgebiet für die Eingebo-
renen-Zivilrechtspflege geschriebenes Recht fast gar nicht in Betracht kommt
und auch die Rechtsgewohnheiten der Eingeborenen, wenngleich sie regelmäßig
zu beachten sind, (Dernburg, Bürgerl. Recht, Bd. I 3. Aufl. S. 81), doch nur in
soweit Anerkennung beanspruchen können, als sie nicht — vom Standpunkt
einer europäischen Kulturnation aus beurteilt — gegen die gesunde Vernunft
und die guten Sitten verstoßen (vgl. Dernburg, a. a. OÖ. S. 82), so wird das an-
zuwendende Recht in der Hauptsache aus allgemeinen rechtlichen Erwägungen
hergeleitet werden müssen (namentlich unter Zuhilfenahme der Analogie des
Bürgerlichen Gesetzbuches), und es wird immerhin für das freie Ermessen der
richterlichen Dienststellen ein großer Spielraum übrigbleiben. Ferner wird wie
in der Heimat, so auch in den Schutzgebieten dem Gerichtsgebrauch eine gewisse
rechtsschöpferische Kraft nicht abgesprochen werden können. (Vgl. Dernburg,
a.a. OÖ. S. 83, 84; ders. Pandekten Bd. I 7. Aufl. S. 62, 63; Kohler in Ihering's
Jahrbuch Bd. 25 S. 262 f.; ders. Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts Bd. I S. 112.)
Deshalb wird schließlich auch die Möglichkeit einer Fortbildung des Eingebore-
nen-Zivilrechts durch Bekanntmachungen der in Rede stehenden Art und eine
sich darauf gründende richterliche Übung — entsprechend der Entwicklung, wie
sie z. B. auch im römischen und später im gemeinen deutschen Zivilrecht statt-
gefunden hat — nicht in Abrede gestellt werden können. (Soweit der Inhalt
solcher Bekanntmachungen in ständiger Praxis befolgt wird, wird er mit der
Zeit sogar gesetzgleiche Norm werden können.)
Dieselben Erwägungen werden nun freilich auch Platz greifen müssen, so-
weit die Zuständigkeit des Kaiserlichen Gouvernements als der obersten mit Ge-
richtsbarkeit über die Eingeborenen bekleideten Behörde des Schutzgebiets in
Frage kommt. Es wird ihm nicht verwehrt werden können, auch seinerseits
Bekanntmachungen zu erlassen, in welchen es zu Fragen des Eingeborenen-
Zivilrechts Stellung nimmt, und — soweit dabei der Rahmen einer Belehrung
nicht überschritten wird — wird es sich mit entsprechenden Kundgebungen
(Runderlassen, Dienstanweisungen) auch an die untergeordneten, mit der Einge-
borenen-Zivilrechtspflege betrauten Dienststellen wenden dürfen. Seine Auf-
sichtsstellung wird es auch mit sich bringen, daß es die letzteren zur Zurück-
nahme oder Änderung einer von ihnen ausgegangenen Bekanntmachung an-
halten kann, wenn diese zu Bedenken Anlaß gibt. Ob ein solches Vorgehen etwa
gegenüber der Bekanntmachung des Bezirksamtmanns in Edea vom 6. Juni v. Js.
angebracht sein möchte, überlasse ich der Entschließung des Kaiserlichen Gou-
vernements. Da hier für eine Beurteilung des materiellen Inhalts jener Bekannt-
machung die Unterlagen fehlen, so beschränke ich mich in diesem Erlasse darauf,
die Rechtslage nach ihrer formellen Seite hin klarzustellen. .....
Berlin, den 15. Januar 1907.
Auswärtiges Amt. Kolonial-Abteilung.
I. V.: Seitz.