$ 15 Die Gesetzgebung. 115
welches zwar ein Willensakt, eine rechtswirksame Anordnung ist, aber nicht
Rechtssätze zum Inhalt hat, sondern subjektive Rechte und Pflichten. W e-
sentlich für den Begriff des Gesetzes ist, dass dasselbe einen Rechts-
sstz aufstellt, d. h. eine Regel, kraft welcher an die Verwirklichung eines
Tatbestandes sich Rechtswirkungen knüpfen; aber nicht, dass dieser Rechts-
satz eine allgemeine Regel enthält, welche auf viele oder auch nur auf
eine unbestimmte Anzahl von Fällen anwendbar ist. Zwar liegt es in der
Natur des Rechts, dass dasselbe gewöhnlich solche Regeln bildet, welche
in allen Fällen Anwendung finden sollen, in denen ein bestimmter Tatbestand
gegeben ist, und da das Gesetz eine Rechts quelle ist, so hat es gewöhnlich,
dieser Natur des Rechts entsprechend, einen allgemeinen Rechtssatz zum
Inhalt. Allein dies ist eben nur ein Naturale, nicht ein Essentiale des Gesetz-
begriffes. Mit dem Begriff des Gesetzes ist völlig vereinbar, dass dasselbe
einen Rechtssatz aufstellt, der nur auf einen einzigen Tatbestand anwendbar
ist, d.h. dass es aus einem Tatbestand, der nur ein einziges Mal sich realisieren,
sich nicht wiederholen kann, eine Kategorie für sich bildet. Alsdann erschöpft
sich die Tragweite der abstrakten Regel in ihrer Anwendung auf den einen
konkreten Fall.
Aus diesem Grunde ist die begriffliche Unterscheidung zwischen dem Spezial-
gesetz und demjenigen Individualgebot, das unter den Begriff des Rechtsgeschäftes,
des Verwaltungsaktes, fällt, schwierig. In der juristischen Literatur, namentlich der
des Zivilrechts, ist die Meinung, dass zum Wesen des Gesetzes eine allgemeine
Regel gehöre und nur die leges generales ‚‚eigentliche‘‘ Gesetze seien, sehr verbreitet.
Die wissenschaftliche Jurisprudenz kann freilich nur aus den leges generales Rechts-
regeln entnehmen; für sie sind die Spezialgesetze ein steriles und unfruchtbares Ma-
terial. Denn das jus singulare ist nachPaulus’ Ausdruck contra tenorem rationis
propter aliquam utilitatem auctoritate constituentium introductum. Mit Recht sagt
JTulianus :Inbhis, quae contra rationem juris constituta sunt, non possumus sequi
regulam juris, und mit anderen Worten Celsus: Ex his, quae forte uno
aliquo casu accidere possunt, jur&a non constituunter und: ad ea potius debet aptari
jus, quae et frequenter et facile, quam quae perraro eveniunt. (Dig. I. 3.) Allein
diese Aussprüche wollen nicht sagen, dass das jus singulare kein jus und die lex
specialis keine lex sei, sondern nur, dass die darin enthaltene Vorschrift nicht ver-
allgemeinert, nicht auf andere analoge Tatbestände ausgedehnt werden dürfe: ‚‚nec
ad exemplum trahuntur‘“ (Ulpian)oder, wiePaulus sagt: ‚„quod contra rationem
juris receptum est, non est producendum ad consequentias“. Zum Begriffe des
Gesetzes aber gehört die „Allgemeinheit der Regel‘ nicht. G. MeyerbeiGrün-
hut VIII S.15 fg und Schulze, Deutsch. Staatsr. IS. 517 halten an diesem Er-
fordernis fest, während Andere den Inhalt des Gesetzes überhaupt für indifferent
hinsichtlich des Begriffes ansehen und nur die Gesetzesform für allein massgebend
erachten. Dass die Form des Erlasses für den Begriff des Gesetzes in dem hier er-
örterten Sinne nicht wesentlich ist, wird bald näher ausgeführt werden.
Sehr beachtenswert für die Lösung des in Frage stehenden Problens sind die
Erörterungen von Rosin, Das Polizeiverordnungsrecht in Preussen. Breslau 1882
(2. Aufl. 1895). Der Letztere sagt S. 7: „Die Ursache dieses wissenschaftlichen Gegen-
satzes ist, wie ich meine, in einer Verwechslung des Begriffes der „Allgemeinheit‘
ımit dem der ‚Einheit‘ zu finden. Das Gesetz zieht als Rechtsregel unter die von
ihm aufgestellte Normierung begrifflich notwendig eine Einheit von Fällen.“ —
„Es kann ein einzelner, in der Welt der Tatsachen real zur Erscheinung gelangter
regel enthalten, ausschliesslich in das Auge gefasst. Daraus erklärt es sich, dass man
dann so weit gehen kann, den Ausdruck ‚Gesetz‘ ganz gleichbedeutend mit ‚„Rechts-
norm‘‘ zu verwenden, so dass er auch das Gewohnheitsrecht mit umfasst, indem die
gesetzliche Erscheinungsfornı des Rechts bei den staatlichen Zuständen der Gegenwart
die gewohnheitsrechtliche an Wichtigkeit so sehr überragt, dass man die letztere ausser
Acht lassen und die Spezies (Gesetzesrecht) für das Genus (Rechtsnorm) setzen kann.
In diesein Sinne erklären die Einführungsgesetze zur Strafproz.-Ordn. $ 7, zur Civilproz.-
Ordn. $ 12, zur Konk.-Ordn. $ 2, zum BGB. Art. 2, ‚Gesetz‘ bedeute ‚jede Rechtsnorm‘.
g*