Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

116 Fünfter Abschnitt: Die Funktionen des Reiches. $ 15 
  
  
oder noch gelangender Tatbestand Gegenstand der gesetzlichen Normierung sein, 
wenn diese Norinierung nur fürihn als für eine eigene Einheit erfolgt.“ 
Er unterscheidet demgemäss, im Anschluss an Ihering, Zweck im Recht IS. 
3237 f£., den konkreten Fall, welcher eine einzelne Erscheinungsform einer ab- 
strakten, ihn mitumfassenden Einheit ist, von dem individuellen Fall oder 
Tatbestand, welcher als Fall-Einheit eine besondere rechtliche Normierung empfängt. 
Vgl. auch die eingehenden Untersuchungen von Hermanson 9. 75fg.; sowie 
Stobbe, Deutsch. Privatr. I $18 Seligmann S.61ff. Jellinek 8. 236 ff. 
Seydel, Bayr. Staatsr. Bd. II S. 309. Dyroff 8.8286. Anschütz, Krit. 
Studien S. 23fg. Cahena. a O. S. 113fg. Beispiele für Gesetze im materiellen 
Sinne füreinenindividuellen Fall bietet die Reichsgesetzgebung in erheblicher Zahl; 
hierhin gehören das Ges. v. 21. Juli 1870 (RGBil. S. 498) über die Verlängerung der 
Legislatur-Periode des am 31. Aug. 1867 gewählten Reichstages; das Ges. v. 9. Juni 
1871 über die Einverleibung von Elsass-Lothringen; das Ges. v. 24. Dez.1874 (RGBl. 
8.194) über die geschäftl. Behandlung der Entwürfe der Justizgesetze; die jährlich er- 
gehenden Gesetze über die Kontrolle der Staatsrechnungen; ferner das Gesetz vom 
6. März 1878 (RGBl. S. 5) über die Präklusion der Darlehenskassenscheine, sowie das 
Gesetz v. 30. Mai 1879 (RGBl. S. 194) betreffend die vorläufige Einführung von Aen- 
derungen des Zolltarifs; das Ges. v. 15. Dez. 1890 über die Vereinigung von Hel- 
goland mit dem D. Reich; das Ges. vom 28. Febr. 1892 betreffend die österreichischen 
Vereinstaler u a. 
2. Das Gesetz ist die Anordnungeiner Rechtsregel; es ist demnach 
nicht genügend, dass lediglich ein Rechtssatz formuliert wird, sondern 
er muss für verpflichtend erklärt werden. Der im Gesetz zutage tretende 
Wille ist stets ein Befehl, dass der in dem Gesetz enthaltene Rechtssatz 
befolgt werden soll. Lex est quod populus jubet atqueconstituit 
(Gajus I $ 3). In jedem Gesetz ist deshalb ein doppelter Bestandteil zu 
unterscheiden, die in dem Gesetz formulierte Rechtsregel und die Ausstat- 
tung derselben mit rechtsverbindlicher Kraft, oder der Gesetzes-Inhalt 
und der Gesetzes- Befehl. Das wesentlich staatsrechtliche Moment bei 
der Gesetzgebung ist nicht in der Schaffung eines Rechtssatzes, sondern 
inder Sanktion eines Rechtssatzes, in der Ausstattung eines Rechts- 
satzes mit verbindlicher Kraft zu erblicken !). Nicht als ob die Schaffung 
oder Formulierung des Gesetzesinhaltes nicht auch eine staatliche Angelegen- 
heit, ja eine besonders wichtige Aufgabe des Staates wäre; auch die Findung 
der zu sanktionierenden Massregel ist ein Teil der Gesetzgebungsarbeit; allein 
das spezifische Wirken der Staatsgewalt, das Herrschen, kommt 
nicht in der Herstellung des Gesetzes-Inhaltes, sondern nur in der Sanktion 
des Gesetzes zur Geltung. Dies zeigt sich nach zwei Richtungen. Es ist nicht 
notwendig, dass der Gesetzgeber den Gesetzesinhalt erfindet; er kann ihm 
durch einen völkerrechtlichen Vertrag, durch eine mit der Ausarbeitung 
beauftragte oder freiwillig in Tätigkeit getretene Kommission, durch eine 
Resolution irgend einer Versammlung usw. vollständig gegeben sein; er 
kann den ‚„Rechtsgedanken“ aus dem Gewohnheitsrecht, aus dem, Recht 
1) Unter einem ‚„Re:htssatz‘‘ wird hier selbstverständlich ein Satz gemeint, dessen 
Inhalt sich auf das Recht bezieht; sowie man auch von einem Gesetz entwurf oder 
einern juristischen Lehrbuch usw. sagt, es enthalte „Rechtssätze‘“. Wenn man 
von der Ausstattung eines Rechtssatzes mit verbindlicher Kraft spricht, so ist 
wohl das Missverständnis, dass unter Rechtssatz ein bereits mit verbindlicher Kraft 
ausgestatteter Satz zu verstehen sei, ausgeschlossen. Daher ist die Polemik von Bin- 
ding in der Krit. Vierteljahresschr. N. F. II S. 549 verfehlt und insbesondere die von 
ihm an Stelle der Unterscheidung von Gesetzes-Inhalt und Gesetzes-Befcehl gegebene 
Unterscheidung zwischen ‚„Rechtsgedanken- und Rechtswillens-Erklärung‘“ weder 
„genauer“ noch verständlicher. Der Rechtsgedanke ist der Inhalt, der Rechtswille die 
Sanktion des Gesetzes.
	        
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