Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

122 Fünfter Abschnitt: Die Funktionen des Reiches. $ 15 
2. Die Sanktion. Der vom Bundesrat und Reichstag festgestellte 
Entwurf wird dadurch zum Gesetz erhoben, dass die Befolgung seiner Vor- 
schriften angeordnet wird. Jedes Gesetz besteht demnach aus verschie- 
denen, auch äusserlich vollkommen von einander getrennten Teilen, von denen 
der eine die Regeln selbst, der andere den Gesetzesbefehl, die Anordnung ihrer 
Beiolgung, enthält. Der Gesctzexbefehl wird in den Eingangsworten dem 
Gesetzesinhalt vorausgesendet; die Formel lautet: „Wir... . verordnen 
... was folgt“. Nach dieser Formel scheint der Kaiser die Anordnung zu 
erlassen; bei näherer Prüfung erweist sich diese Annahme aber als unhaltbar 
und weder mit der Natur der Sache noch mit den Bestimmungen der Reichs- 
verfassung vereinbar. In der Sanktion der Gesetze kommt der staatliche 
Herrschaftswille unmittelbar zum Ausdruck; in ihr entfaltet sich der entschei- 
dende und freie Wille, ob etwas Gesetz werden soll oder nicht. Daraus folgt 
mit Notwendigkeit, dass derjenige, der das Recht hat, die Sanktion zu er- 
teilen, auch das Recht haben muss, sie zu versagen, oder wie man sich gewöhn- 
lich ausdrückt, dass ihm das absolute Veto zustehen muss. Wer die Sanktions- 
formel infolge des Willens eines anderen auf ein Gesetz schreiben muss, 
kraft rechtlicher Nötigung, der erteilt in Wahrheit die Sanktion nicht, der ist 
nicht Träger der gesetzgebenden Gewalt, sondern jener andere, in dessen 
freier Entschliessung es steht, jenen Beschluss zu fassen oder nicht. Hier- 
aus ergibt sich, dass man dem Kaiser nur dann die Sanktion der Reichsgesetze 
zuschreiben kann, wenn man ihm zugleich die Befugnis, die Sanktion zu ver- 
weigern, beilegt. Dies ist aber durch die Reichsverfassung ausgeschlossen. 
Art. 5 der RV. stellt den Satz an die Spitze: „Die Reichsgesetzgebung wird 
ausgeübt durch den Bundesrat und den Reichstag‘‘, erwähnt also den Kaiser 
gar nicht bei der Aufzählung derjenigen Organe, durch welche die Gesetz- 
gebung ausgeübt wird. Auch der folgende Passus, wonach die Ueberein- 
stimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Versammlungen zu einem Reichs- 
gesetze erforderlich und ausreichend ist, bestätigt, dass die Zustimmung des 
Kaisers hierzu nicht erforderlich ist. Ganz direkt ausgeschlossen wird aber 
das kaiserliche Plazet durch den zweiten Absatz desselben Artikels, nach 
welchem Gesetzesvorschläge über das Militärwesen, die Kriegsmarine und die 
im Art. 35 bezeichneten Abgaben im Bundesrat als abgelehnt gelten, wenn 
sich die Stimme des Präsidiums dagegen ausspricht. Die Einräumung dieses 
Rechtes wäre völlig sinnlos, wenn das Präsidium bei allen Gesetzesvor- 
schlägen ein liberum veto hätte, oder richtiger ausgedrückt, wenn es den vom 
Bundesrat und Reichstag beschlossenen Gesetzesentwürfen die Sanktion zu 
erteilen hätte. Auch bei den im Art. 5 Abs. 2 bezeichneten Gesetzen übrigens 
kommt die bevorzugte Kraft der Präsidialstimme nur innerhalb des 
Bundesrates zur Geltung; also als ein Recht des Königs von Preussen, nicht 
als Plazet des Kaisers neben der Zustimmung des Bundesrates und des 
Reichstages. Auch Art. 17 der RV. bestätigt dies; denn er überträgt dem 
Kaiser die Ausfertigung und Verkündigung der Reichsgesetze und die Ueber-
	        
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