Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

$ 15 II. Der Weg der Reichsgesetzgebung. 125 
  
fassungsmässiger Weise die Zustimmung des Reichstages und die Sanktion 
des durch den Bundesrat vertretenen Reichs-Souveräns erhalten hat. Er hat 
daher insbesondere zu prüfen, ob im Bundesrate die Abstimmung nach den 
im Art. 7 der RV. aufgestellten Regeln und ob die Beschlussfassung den Be- 
stimmungen der Art. 5. 37 oder 78 der RV. gemäss erfolgt ist; ob dem Ge- 
setz, falls es jura singulorum berührt, der davon betroffene Bundesstaat zu- 
gestimmt hat; ob der Reichstag und Bundesrat die Gesetzesvorlage den be- 
stehenden Vorschriften gemäss behandelt haben; ob zwischen den Beschlüssen 
beider Körperschaften völlige Uebereinstimmung besteht usw. Wenn diese 
Prüfung zu einem negativen Ergebnis führt, so hat der Kaiser nicht bloss 
das Recht, sondern die Pflicht, die Ausfertigung zu versagen, bis der Mangel 
gehoben ist. Auch wenn der Kaiser irrtümlich zu dieser Ansicht gelangen 
sollte, so gilt seine Entscheidung; denn es gibt keine höhere Instanz, welche 
ihn zur Ausfertigung des Gesetzes anhalten könnte. Es ist daher tatsäch- 
lich die Möglichkeit gegeben, dass der Kaiser, indem er die Ausfertigung 
des Gesetzes aus einem formellen Grunde versagt, ein Veto ausübt !). Er- 
kennt der Kaiser an, dass das Gesetz den Vorschriften der Reichsverfassung 
gemäss zustande gekommen ist, so ist die Ausfertigung desselben seine ver- 
fassungsmässige Pflicht ?). 
Hieraus ergibt sich, welche Verantwortlichkeitder Reichs- 
kanzler durch die Gegenzeichnung der Gesetze übernimmt. Sie erstreckt 
sich darauf, dass der dem Kaiser zur Ausfertigung vorgelegte Text buch- 
stäblich genau dem vom Reichstage und Bundesrate beschlossenen Wort- 
laute entspricht ?), und dass das Gesetz in verfassungsmässiger Weise zu 
1) Uebereinstimmend jetzt auch Hänel, Studien IIS. 51. Mejer, Einleitung 
S. 279 Note 16. ZornIS.415fg. Schulzell S. 119. JellinekS.321ff. Kol- 
bow.a.a. O. S. 105ff. Vgl. auch Tezner in den Wiener jurist. Blättern 1887 Nr. 
4fg. Auch Gierke (bei Grünhut VI 8. 230) kann nicht in Abrede stellen, dass der 
Kaiser berechtigt und verpflichtet ist, festzustellen, ob und worin ein übereinstim- 
mender Beschluss von Bundesrat und Reichstag verfassungsmässig zustande gekommen 
ist, aber er meint, dass „hierin gar keine selbständige und besondere Befugnis liegt, 
die einer positiven Herleitung aus deın Worte „Ausfertigung‘‘ bedürfte, sondern eine 
bei der Stellung des Kaisers selbstverständliche (?) Konsequenz seines Verkündigungs- 
rechts‘. Art. 17 der RV. unterscheidet nun aber einmal ausdrücklich und mit gutem 
Grunde die ‚„Ausfertigung‘‘ und die ‚Verkündigung‘, die sich auch in der Praxis deut- 
lich von einander abheben; es ist deshalb nicht einzusehen, warum diese beiden Begriffe 
von der Doktrin durchaus zusammengeworfen und vermengt werden sollen. G.Meyer 
in:Hirths Annalen 1878 S. 374 gibt zu, dass die Nebeneinanderstellung der beiden Aus- 
drücke im Art. 17 cit. „den Eindruck macht, als ob damit zwei verschiedene staatsrecht- 
liche Akte bezeichnet werden sollten‘‘, setzt sich aber darüber hinweg, indem er sie für 
eine der ‚„Inkorrektheiten im Ausdruck, denen wir ja leider in Reichsgesetzen nicht ge- 
rade selten begegnen“, erklärt. Der Umstand, dass die Ausfertigung der Gesetze in der 
Literatur des Deutschen Staatsrechts bisher nicht erörtert worden ist, wozu ein prakti- 
scher Anlass fehlte, rechtfertigt nicht den Schluss, dass sie ‚ein dem Deutschen Staats- 
recht bisher völlig unbekanntes Rechtsinstitut gewesen sei‘‘, und die Annahme, dass 
das Wort „Ausfertigung‘‘ neben „Verkündigung‘‘ in ganz überflüssiger und gedanken- 
loser Weise in den Art. 17 der RV. gesetzt worden sei, hat wenig Wahrscheinlichkeit für 
sich und widerspricht anerkannten Auslegungsregeln. 
2) Hierüber herrscht eine fast allgemeine Uebereinstimmung. 
3) Ueber die Berichtigung von Irrtümern im Gesetzestext vgl. meine Erörte- 
rungen in der DJZ. 1903 8. 301 ff., denen v. Jagemann SS. 109 u. Anschütz 
in der 6. Aufl. von G. Meyers Staatsr. S. 568 zugestimmt haben. Dagegen mehrfach ab- 
weichend J. Lukas, Fehler im Gesetzgebungsverfahren. Hannov. 1907 (Abdruck 
aus dem „Recht‘‘ 1907 S. 668 ff.). 
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