126 Fünfter Abschnitt: Die Funktionen des Reiches. 8 15
stande gekommen ist. Der Reichskanzler hat bei Prüfung dieser Frage den
Kaiser zu unterstützen und ihm darüber erforderlichenfalls Vortrag zu hal-
ten; durch seine Gegenzeichnung bekundet er, dass auch er bei pflichtmässiger
Prüfung die rechtliche Ueberzeugung gewonnen habe, dass das Gesetz in
Uebereinstimmung mit den Vorschriften der RV. beschlossen worden sei.
Dagegen erstreckt sich die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers nicht auf
den materiellen Inhalt der Gesetzes-Vorschriften, auf welche er nach erfolgter
Beschlussfassung des Reichstages und Bundesrates keinen Einfluss mehr aus-
zuüben vermag. Wenn der Reichskanzler daher mit den Anordnungen des
Gesetzes nicht einverstanden ist, jedoch anerkennen muss, dass das Gesetz
verfassungsmässig errichtet worden ist, so ist er weder verpflichtet noch be-
rechtigt, die Ausfertigung desselben durch Versagung seiner Gegenzeichnung
zu hindern oder zu verzögern. Will er an dem Erlass des Gesetzes nicht mit-
wirken, so kann er seine Entlassung fordern, die ihm nicht verweigert werden
kann.
Wenn der Kaiser die Ausfertigung erteilt, so wird damit in formell un-
anfechtbarer und rechtswirksamer Weise konstatiert, dass das Gesetz ver-
fassungsmässig zustande gekommen ist. Damit beantwortet sich die Frage
nach dem sog. richterlichen Prüfungsrecht der Verfassungsmässigkeit der
Reichsgesetze. Der Kaiser ist zum Wächter und Hüter der Reichsverfassung
gesetzt. Ihm liegt es ob, darauf zu sehen, dass bei jedem Gesetzgebungsakt
des Reiches alle für die Reichsgesetzgebung geltenden Rechtssätze befolgt
werden; er prüft im Interesse aller Glieder und Untertanen des Reiches, ob
das Gesetz verfassungsmässig errichtet ist; und er gibt dem Resultat dieser
Prüfung durch Ausfertigung «des Gesetzes den formell rechtswirksamen Aus-
druck. Wenn aber Art. 17 der RV. den Kaiser mit dieser Funktion betraut,
so kann ces nicht jedem Richter und Verwaltungsbeanten zustehen, in dem
einzelnen, von ihm zu entscheidenden Falle den kaiserlichen Ausspruch einer
Teberprüfung zu unterwerfen und je nach dem Ausfall derselben ihm einen
widersprechenden entgegenzusetzen !).
4. Die Verkündigung der Reichsgesetze ist im Art. 17 der RV.
ebenfalls dem Kaiser übertragen. Dieser Ausdruck bedeutet an dieser Stelle
nicht die Bekanntmachung selbst, welche im Art. 2 der RV. geregelt ist,
sondern den Verkündigungsbefehl. Der kaiserliche Befehl ist an den Reichs-
kanzler gerichtet und steht mit der Ausfertigung in so untrennbarem und
engem Zusammenhange, dass beide tatsächlich zusammenfallen können. Die
Ausführung des Verkündigungsbefehls geschieht nach Art. 2 cit. vermittelst
eines Reichsgesetzblattes. Diese Art der Verkündigung ist die
einzige, welche rechtliche Wirkung hat; sie kann durch kein anderes Mittel
der Bekanntmachung ersetzt werden, namentlich nicht durch den Abdruck
1) Vgl. über diese sehr bestrittene Frage die näheren Ausführungen in meinem
Staatsrecht des D. Reichs II S. 14ff. Auch der bayrische Verwaltungsgerichtshof
(Sammlung seiner Entsch. Bd. XXVII S. 290) hat sich der im Text entwickelten An-
sicht angeschlossen. Eine neuere Behandlung der Frage, welche wieder mit der Theorie
von der Gewaltenteilung operiert, ist von J. Cahn in TIirths Annalen 1907 S. 481 ff.
5397 ff.