Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

815 III. Gesetze im formellen Sinne. 129 
  
anwendete, in der Tat die Volksvertretung auf die „Legislative“ beschränkt 
und die Theorie von der Teilung der Gewalten durchgeführt zu haben. In 
Wahrheit aber bezeichnet das Wort ‚Gesetz‘ in diesem Sinne nicht einen 
Teil: der in der Staatsgewalt enthaltenen Befugnisse, sondern eine 
Form, in welcher der staatliche Wille erklärt wird, gleichviel, was der In- 
halt dieses Willens ist. Durch ein ‚Gesetz‘ kann der Wirtschaftsplan für den 
Staatshaushalt oder der Kostenanschlag für ein Unternehmen festgestellt, die 
Richtigkeit einer Rechnungslegung anerkannt, das Vermögen der verjagten 
Dynastie konfisziert und ebenso derselben zurückgegeben, die Errichtung oder 
Zerstörung eines nationalen Denkmals anbefohlen, die Erteilung einer Dota- 
tion, des Ehrenbürgerrechts, oder eines Titels, sowie die Verbannung oder der 
Verlust der Staatsangehörigkeit ausgesprochen werden. Durch ein Gesetz kann 
ebenso eine schwebende Rechtsstreitigkeit entschieden, die Gültigkeit oder 
Ungültigkeit eines Aktes der Regierung ausgesprochen, eine Wahl anerkannt 
oder vernichtet, eine Begnadigung oder Amnestie erteilt werden. Verwal- 
tungsvorschriften von Wichtigkeit, welche nicht nach dem Belieben der Re- 
gierung abgeändert oder aufgehoben, sondern dauernd von den Verwaltungs- 
behörden befolgt werden sollen, werden überaus häufig in der Form des Ge- 
setzes erlassen. In allen Gesetzbüchern und in den meisten grösseren Gesetzen 
finden sich neben wirklichen Rechtssätzen politische Thesen, Lehrsätze, 
Einteilungen, Definitionen, Konstruktionen, Konstatierungen von Tatsachen 
oder Ansichten, erläuternde oder begriffsentwickelnde Ausführungen und 
namentlich instruktionelle Vorschriften. Ein und dasselbe Gesetz kann einen 
sehr verschiedenartigen Inhalt haben und neben wirklichen Rechtssätzen Ver- 
waltungsvorschriften, Finanzmassregeln, Ermächtigungen usw. enthalten. 
Es gibt mit einem Worte keinen Gegenstand des gesamten staatlichen Le- 
bens, ja man kann sagen keinen Gedanken, welcher nicht zum Inhalte eines 
Gesetzes gemacht werden kann. 
Gesetz im materiellen Sinne und Gesetz im formellen Sinne verhalten 
sich daher zu einander nicht wie Gattung und Art, wie ein weiterer und ein 
ihm untergeordneter engerer Begriff; sondern es sind zwei durchaus ver- 
schiedene Begriffe, von denen jeder durch einanderes Merkmal bestimmt 
wird; der eine durch den Inhalt, der andere durch die Form einer Willens- 
erklärung. Ein Staatsgesetz im formellen Sinne ist ein Willensakt des Staates, 
der in einer bestimmten feierlichen Weise zustande gekommen und erklärt 
worden ist. Den gemeinsamen Ausgangspunkt für beide Begriffe, der die 
Verwendung desselben Ausdrucks für zwei so verschiedene Dinge erklärt, 
bildet der Satz, dass Anordnungen von Rechtssätzen der Regel nach nur auf 
dem verfassungsmässig bestimmten Wege erfolgen dürfen, der deshalb der 
„Weg der Gesetzgebung‘ heisst ?). 
1) Der Gegensatz zwischen materiellen und formellen Gesetzen ist in der neuesten 
staatsrechtlichen Literatur fast allgemein angenommen worden, so dass es nicht cer- 
forderlich scheint, die Vertreter dieser Ansicht namhaft zu machen. Gegen den Be- 
griff des formellen Gesetzes haben sich u. a. erklärt v. Martitzin der Tübinger Zeit- 
schrift für die ges. Staatswissensch. Bd. 36, Zornin Hirths Annalen 1885 8. 301 ££f. 
und 1889 8. 344 ff., Seidler, Budget und Budgetrecht und namentlich Hänel, 
Laband, Reichsstaatsrecht. 6. Aufl. 9
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.