$ 16 | Die Verordnungen des Reiches. 135
stimmten Anfangstermin seiner Geltung enthält, die Verkündigung desselben
aber über diesen Termin hinaus sich verzögert !). Da die Verkündigung ein
wesentliches Erfordernis seiner Existenz ist, so kann das Gesetz vor
dem Zeitpunkte seiner Verkündigung überhaupt noch nicht als vorhanden
angesehen werden ?); inwieweit aber die in dem Gesetz enthaltenen Rechts-
vorschriften nach Verkündigung des Gesetzes auf Tatbestände oder Rechts-
verhältnisse zurückzubeziehen sind, welche in der Zwischenzeit zwischen dem
im Gesetz angegebenen Tage der Wirksamkeit und dem Tage der Verkündi-
gung ihre Entstehung haben, z. B. die Verpflichtung zur Entrichtung eines
gewissen Zollbetrages für die in dieser Zwischenzeit in das Bundesgebiet ein-
geführten Waren, ist lediglich nach dem Inhalt des Gesetzes zu beurteilen.
$ 16. Die Verordnungen des Reiches?). 1. Der Begriff der Ver-
ordnung ist grade wie der des Gesetzes ein zweifacher; der Ausdruck hat eine
materielle und eine formelle Bedeutung; wie hinsichtlich des Gesetzesbe-
griffes, so ist auch hinsichtlich der Verordnung der Doppelsinn durch die
Theorie von der Teilung der Gewalten und ihre historische Bedeutung für
das moderne Staatsrecht entstanden.
Der materielle Begriff der Verordnung ergibt sich aus dem Gegen-
satz zum materiellen Gesetzesbegriff; sie muss einen anderen Inhalt haben,
also keine Rechts vorschrift, sondern eine Anordnung auf dem Gebiet der
Verwaltung enthalten. Ihr Anwendungsgebiet ist das von den Gesetzen den
Verwaltungsbehörden freigelassene Feld staatlicher Fürsorge; sie enthält
einen Dienstbefehl für die Behörden, keinen Rechtssatz; für die Verwaltung
als Ganzes ist sie nicht ein zwingender Befehl einer höheren Potenz, sondern
ein Ausfluss der eigenen Willensbestimmung; sie schafft nicht Recht, sondern
bewegt sich innerhalb der vom Recht gesetzten Schranken. Der Gegensatz
von Recht und Verordnung im materiellen Sinne entspricht vollkommen dem
Gegensatz von Rechtsvorschrift und Verwaltungs vorschrift.
Der formelle Sinn der Verordnung ergibt sich aus dem Satz der
konstitutionellen Doktrin, dass die Volksvertretung einen Anteil an der Re-
1) Das am 26. Juli 1881 verkündigte Gesetz vom 17. Juli 1881 betreffend die Be-
strafung von Zuwiderhandlungen gegen die österreich.-ungar. Zollgesetze, bestimmt im
$ 1, dass es vom 1. Juli d. J. an in Kraft trete (!).
2) Dies gilt auch in dem Falle, dass der Anfangstermin der Geltung ‚auf den Tag
der Verkündigung‘ festgesetzt ist. Da nicht zu vermuten ist, dass dem Gesetz rück-
wirkende Kraft beigelegt werden soll, so ist es auf Tatbestände nicht anzuwenden,
welche vor der Herausgabe des Gesetzes sich vollendet haben. Vgl. meine Ausfüh-
rungen in der Monatsschr. f. Handelsr. u. Bankwesen 1905 8. 89 ff. Um den Tag als
Zeiteinheit festzuhalten, will Heinitz in der DJZ. 1905 8. 636 die Klausel inter-
pretieren: „mit dem Ablauf des Tages der Verkündigung“. Dies wäre sehr zweck-
mässig, widerspricht aber dem Sprachgebrauch der Gesetze. Die Vorschrift eines Ge-
setzes, dass es am 1. Oktober in Kraft trete, bedeutet nicht am Ende, sondern am Be-
ginn des 1. Oktober — aber unter der selbstverständlichen Voraussetzung, daB es vor
dem 1. Oktob. ordnungsmässig verkündigt wird. Allen Schwierigkeiten würde begegnet
werden, wenn die Klausel lauten würde ‚am Tage nach seiner Verkündigung‘, wie z. B.
in dem els.-lothr. Ges. v. 17. Mai 1906 $ 3 (Gesetzbl. S. 52).
83) Rosin, Das Polizeiverordnungsrecht in Preußen. 2. Aufl. 1895. Ad. Arndt,
Das Verordnungsrecht des Deutschen Reichs 1884. Jellinek, Gesetz u. Verordnung.
Freib. 1887. Hänel, Studien II S. 62 ff. u. Staatsrecht I 8. 271 ff. Siehe die $S. 114
verzeichnete Literatur.