136 Fünfter Abschnitt: Die Funktionen des Reiches. $ 16
gelung der Rechtsordnung, aber nicht an der Leitung der Verwaltung, eine
Mitwirkung an dem Erlass der Gesetze, aber nicht an dem Erlass der Ver-
ordnungen hat. So wie man einerseits Verwaltungsakte, an denen die Volks-
vertretung eine Mitwirkung erhalten sollte, der Legislative oder Gesetz-
gebung zuwies, sie an die Form des Gesetzes band, so erklärte man an-
dererseits die Anordnung von Rechtsregeln, falls dieselbe ohne Zustimmung
der Volksvertretung statthaft sein sollte, für eine Verordnung, d. h. man ge-
stattete dafür diejenigen Formen, welche im allgemeinen nur für den Erlass
von Verwaltungsvorschriften ausreichend sind. In diesem formellen Sinne
scheiden demnach aus dem Begriff der Verordnung aus alle diejenigen
Verwaltungs-Vorschriften, welche auf dem Wege der Gesetzgebung erlassen
werden, wie z. B. der Staatshaushalts-Etat, und es fallen andererseits unter
diesen Begriff alle Rechtsvorschriften, welche ohne Mitwirkung der Volks-
vertretung zustande gekommen sind. Der formelle Begriff der Verordnung
deckt sich mithin keineswegs mit dem Begriff der Verwaltungsvorschrift; er
umfasst teils weniger, teils mehr; er umfasst im Gegensatz zum formellen
Gesetzesbegriff alle Willensakte des Staates, welche im Wege der Verord-
nung ergehen !).
Demnach zerfallen die Verordnungen in Rechts verordnungen und
Verwaltungs verordnungen 2). Die letzteren werden bei der Lehre von
der Verwaltung erörtert werden; die ersteren gehören in die Lehre von der
Gesetzgebung; denn sie sind Gesetze im materiellen Sinne des Wortes, jus
scriptum. Unter den Rechtsverordnungen sind wieder zwei Arten zu unter-
scheiden, welche man als Verordnungen mit interimistischer Gesetzeskraft
und Ausführungsverordnungen einander gegenüberstellt. Der begriffliche
Gegensatz zwischen denselben beruht darauf, dass die ersteren gesetzlich
sanktionierte Rechtsvorschriften zu suspendieren oder zeitweilig aufzuheben
vermögen, die letzteren dagegen einer im Wege des Gesetzes erlassenen An-
ordnung nicht derogieren und daher nur innerhalb der in den Gesetzen auf-
gestellten Rechtsgrundsätze speziellere Bestimmungen treffen dürfen. Durch
die ersten würde, wenn sie unbedingt zulässig wären, die Mitwirkung der
Volksvertretung an der Gesetzgebung zu einer wertlosen Förmlichkeit herab-
gemindert; sie sind deshalb überall nur gestattet unter der Resolutiv-Beding-
ung, dass das demnächst zusammentretende Parlament sie genehmigt; ihre
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1) Im wesentlichen übereinstimmend Gneist in v. TIoltzendorffs Rechtslexik.
3. Aufl. Bd. III S. 1059 ff.
2) Diese Unterscheidung von Rechtsverordnungen und Verwaltungsverordnungen
ist in der neuesten deutschen Literatur fast allgemein anerkannt worden. Ihr haben zu-
gestimmt G. Meyer, Staaisr. $ 150. 165. Schulze, Deutsches Staatsr. I $ 187.
v.Gerber, Grundzüge des D. Staatsr. (3, Aufl.) $ 48. 53. Pröbst in Ilirths Anna-
len 1882 8. 2418, besonders in selbständiger Entwieklung Hänel,. Studien II S. 62 fg.
u. Staatsrecht a. a. O. und Rosin, Polizeiverordnungsr. S. 19 ff. Seydel, Bayer.
Staatsr. II 327 ff. 335. SeligmannS. 103fg. Jellinek 8.384 Anschütz
a. 2. O0. S. 7Wfg. u. Enzyklop. S. 602 fg. v. JagemannS. 94, 115fg Thoma
Polizeibefehl I S. 59 ff. 325 ff. Fleiner Institut des Verw. R. 8. 6t ff. Auch das
Reichsgericht hat diese Unterscheidung wiederholt anerkannt. Dagegen er-
klären sich v. Martitza. a. O. S. 50 und Zorn, Staatsrecht I S. 454. Der
leiztere identifiziert dabei irrtümlicherweise mıaterielle Verordnungen mit Rechts-
verordnungen und formelle Verordnungen mit Verwaltungsverordnungen.