138 Fünfter Abschnitt: Die Funktionen des Reiches. $ 16
Rechtsregeln aufzustellen, Anordnungen darüber enthalten, wie gewisse
Rechtsregeln erlassen werden sollen. Es liegt hierin keine Verletzung oder
Aufhebung, sondern eine besondere Anwendung der im Art. 5 der RV. ge-
gebenen Vorschrift. Eine vielfach betätigte Praxis, deren Rechtmässigkeit
niemals weder vom Reichstage noch vom Bundesrate oder der Reichsregie-
rung angezweifelt worden ist, hat dieser Auffassung sich angeschlossen.
Es ergibt sich demnach folgendes Resultat: Eine allgemeine, durch die
RV. selbst begründete Befugnis zum Erlass von Rechtsverordnungen be-
steht nicht, wohl aber kann dieselbe in jedem einzelnen Falle durch aus-
drückliche Anordnung eines Reichsgesetzes konstituiert werden. Oder mit
anderen Worten: Jede Verordnung, welche Rechtsvor-
schriften enthält, kann nur gültig erlassen werden
auf Grund einer speziellen, reichsgesetzlichen De-
legation!).
3. Das Verordnungsrecht besteht in der Befugnis, Rechtsvor-
schriften mit verbindlicher Kraft auszustatten, siezu saenktionieren.
Erlass einer Verordnung bedeutet nicht die Feststellung ihres Wort-
lautes, sondern die Sanktion der in ihr enthaltenen Rechtssätze. Auch bei den
Verordnungen gelten teilweise andere Regeln für die Feststellung ihres In-
haltes wie für die Sanktion. Das Verordnungsrecht kann delegiert 2) werden:
a) Dem Bundesrat. Wenn in einem Reichsgesetz bestimmt ist,
dass die zur Ausführung erforderlichen Rechtsregeln durch Verordnung er-
lassen werden sollen, ohne dass hinzugefügt wird, von wem, so ist der Bundes-
rat als das hierzu berechtigte Organ anzusehen. Es ergibt sich dies aus seiner
allgemeinen Stellung im Organismus des Reiches. Die Beschlussfassung er-
folgt nach ganz denselben Regeln wie die Beschlussfassung über Gesetze; je-
doch ist das sogenannte Veto der Präsidialstimme in Angelegenheiten, welche
das Militärwesen, die Kriegsmarine und die im Art. 35 der RV. bezeichneten
Abgaben betreffen, auf ‚„Gesetzesvorschläge‘“ beschränkt. RV. Art. 5 Abs. 2.
Es genügt dies auch vollkommen, da es das Mittel bietet, die Delegation des
Verordnungsrechts an den Bundesrat, die ja nur durch Gesetz erfolgen kann,
zu verhindern.
b) Dem Kaiser. Der Erlass der Verordnungen kann dem Kaiser ent-
weder schlechthin delegiert werden oder mit der Einschränkung, dass er dabei
an die Zustimmung des Bundesrates gebunden ist. In dem letzteren Falle
1) Dem entsprechend wird in jeder Verordnung in den Eingangsworten die Gesetzes-
bestimmung angegeben, auf Grund deren sie erlassen ist. Als eine wesentliche
Form, deren Nichtbeachtung die Ungültigkeit der Verordnung zur Folge hat, kann
dies zwar nicht erachtet werden, da die Reichsgesetzgebung die Forınen, in denen
Verordnungen zu erlassen sind, überhaupt nicht geregelt hate. Materiell hängt
aber die Gültigkeit einer Verordnung von dem Vorhandensein einer gesetzlichen Dele-
gation ab und es ist demgemäß die Praxis, diese Gesetzesbestimmung in der Verord-
nung in Bezug zu nehmen, durchaus sachgeınäss.
2) Dyrof£ S. 877 bemängelt den Ausdruck ‚Delegation‘. Dass es sich nicht
um eine Delegation im Sinne des Zivilrechts handelt, ist unzweifelhaft und wohl von
niemandem verkannt worden; es handelt sich immer nur um eine gesetzliche Anordnung
über die Form, in welcher gewisse Vorschriften erlassen werden sollen. Der von Dyroff
gebrauchte Ausdruck ‚„bezugnehmende Gesetze‘ eignet sich schon wegen seiner voll-
kommenen Unverständlichkeit nicht als technische Bezeichnung.