$ 17 Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung. 143
$ 17. Reichsgesetzgebung und Landesgesetzgebung !). I. Die von einem
Staatenbund aufgestellten Rechtsregeln haben die Verbindlichkeit des Ver-
trages. Der einzelne Staat erfüllt eine vertragsmässige Pflicht, indem er
den Bundesbeschluss zur Ausführung bringt. Hierzu ist demnach ein Willens-
akt des Einzelstaates erforderlich, nämlich der Befehl des Einzelstaates an
seine Behörden und Untertanen, den Bundesbeschluss zu befolgen; es muss
ein Gesetzgebungsakt des Einzelstaates hinzukommen, durch welchen der
Bundesbeschluss für den Einzelstaat in ein Gesetz umgewandelt wird. Im
Bundesstaat dagegen erlangt das Bundesgesetz seine rechtliche Geltung und
verbindliche Kraft ohne einen Willensakt des Einzelstaates. Der dem Reiche
angehörende Gliedstaat wird von der Reichsgewalt beherrscht und ergriffen,
wie der einzelne Untertan. Die Gesetzesbefehle des Reiches müssen von
dem Einzelstaat und seinen Behörden befolgt und ausgeführt werden; das
Reichsgesetz gilt kraft des Willens des Reichs, nicht kraft des Willens der
Einzelstaaten. Deshalb kann der Einzelstaat die Befolgung der Reichsgesetze
seinen Behörden und Angehörigen nicht nur nicht verbieten, sondern es ist
auch kein Raum für eine Willenserklärung des Einzelstaates, welche den Be-
hörden und Untertanen desselben die Beobachtung und Anwendung der
Reichsgesetze anbefiehlt oder erlaubt. Der Einzelstaat kann den Befehl des
Reichs nicht seinerseits sanktionieren und, da die Sanktion ihren öffentlichen
Ausdruck in der Verkündigung findet, auch nicht verkündigen. Der Art. 2
der RV. deutet die Unzulässigkeit einer Verkündigung durch die Einzel-
staaten dadurch an, dass er sagt: ‚‚Die Reichsgesetze erhalten ihre verbindliche
Kraft durch ihre Verkündigung von Reichs wegen.‘ Was bereits ver-
bindliche Kraft hat, dem kann nicht nochmals verbindliche Kraft erteilt werden.
II. Das Verhältnis der Reichsgesetze zu den Landesgesetzen der einzel-
nen Staaten bestimmt sich im allgemeinen durch den Grundsatz, dass das
Reich die souveräne Gesetzgebungs-Gewalt, die Einzelstaaten die Autonomie
haben. Daraus ergibt sich, dass die Reichsgesetze den Landesgesetzen vor-
gehen. Der Vorrang der Reichsgesetze beruht darauf, dass ihre Sanktion
von der höheren, und zwar der souveränen, Gewalt ausgeht; er kommt daher
nicht bloss den in der Form der Reichsgesetzgebung erlassenen Anordnungen,
sondern auch allen rechtsgültig erlassenen Reichsverordnungen zu, und es
macht keinen Unterschied, ob die landesrechtlichen Vorschriften Verfassungs-
bestimmungen, einfache Gesetze, Verordnungen oder Gewohnheitsrechtssätze
sind. Durch den Erlass eines Reichsgesetzes verlieren &1le landesrecht-
1) Heinze, Das Verhältnis des Reichsstrafrechts zu dem Landesstrafrecht.
Leipzig 1871. Derselbein v. Holtzend. Handbuch des Strafrechts II S.1ff. Bin-
ding, Strafrecht I S. 270 ff. v. Bar, Gesetz u. Schuld im Strafrecht Bd. I 8. 29 ff.
(1906. Wach, Civilprozessrecht I S. 189 ff. Löwe, Strafproz.-Ordn. zu $ 6 des
Einf.-Gesetzes. Hänel, Staatsrecht I 8. 238ff. Seydel, Bayer. Staatsr. II S.
341 ff. Zorn., Staatsr. 1 422 ff. u. dessen Bearbeitung von Rönnes Preuss. Staatsr. I
8. 127ff. G. Meyer, Staatsr. $ 167. Für das Privatrecht: Niedner, Komment.
zum Einf.-Gesetz zum BGB., insbesondere zu Art.3u.4. Endemann, Lehrb. des
b. Rechts Bd. 1818. Zitelmann, Zum Grenzstreit zwischen Reichs- u. Landesrecht.
Bonn 1902. Vgl.auchL.v. Eichhorn, Die Aufhebung des Jesuitengesetzes. (Greifs-
walder Dissert.) 1904. Heinr. Schanz in der Jurist. Wochenschr. 1905 (Sonderab-
druck) hinsichtl. der Anwalts-Gebührenordnung.