81 Die Gründung des Norddeutschen Bundes. 9
staatlichen Willen der Gesamtheit beruht. Diese Auffassung ist namentlich von
Hänel, Studien I. 68 ff. vertreten und zur Anerkennung gebracht worden. Hier
entsteht nun aber das Problem, wie ist es möglich, dass ein Staat und seine Ver-
fassung gleichzeitig entstehen; denn der Staat setzt zu seiner Existenz eine Verfas-
sung, die Verfassung aber zu ihrer Sanktionierung eine Staatsgewalt voraus. Hänel
suchte dies so zu erklären, ‚dass diejenigen Organe des Wollens und Handelns, welche
die mit dem Reichstag vereinbarte Bundesverfassung vorgesehen hatte, in das Leben
treten mussten und der hiermit organisierte Bund die Bundesverfassung als seine
oberste rechtliche Willensbestimmung sich aneignen musste“. Aehnlich Le Fur
und Posener Bundesstaat und Staatenbund 1902 I. S. 126fg. Die Organe des
Bundes leiten aber doch ihre Existenz und Befugnis erst aus der Verfassung ab, die
Rechtskraft der letzteren kann daher nicht darauf zurückgeführt werden, dass diese
Organe sie sich ‚„‚aneigneten‘‘, ohne dass ein circulus vitiosus entsteht, und Hänelkann
den Einwand, dass seine Erklärung auf eine generatio aequivoca hinauslaufe, nicht ent-
kräften, obgleich er dies in seinem Staatsrecht I. S. 32 Note 17 versucht. Er stellt
hier der „vereinbarten“ die ‚zur Geltung gelangte‘ Verfassung gegenüber, ohne er-
klären zu können, wie diese Wandlung vor sich ging Zorn, Staatsrecht I. S. 23 ff.
findet die „Lösung“ in folgender Deduktion Unter Verfassung — meint er — versteht
man zweierlei; im weiteren Sinne: jede wie immer geartete Ordnung eines Staates; im
engeren: die Selbstbeschränkung der bisher absoluten monarchistischen Staatsgewalt
bei Ausübung der staatlichen Funktionen. Die Erteilung einer Verfassung in diesem
Sinne sei staatsrechtlich immer eine Konzession, welche der Träger der Staatsgewalt,
der Monarch, an das Volk bezüglich der Ausübung der Staatsgewalt mache. Um
sich nun die Entstehung des Norddeutschen Bundes „staatsrechtlich‘“ klar zu machen,
müsse man unterscheiden: „Zuerst trat die neue Staatsgewalt, die juristische Einheit
der 22 vorher unabhängigen souveränen Staaten, faktisch ins Leben: diese neue
Staatsgewalt aber hat sich sofort, wozu sich deren Faktoren erst vertragsmässig unter
sich, dann jeder einzelne gesetzlich verpflichtet hatten, konstitutionell beschränkt.
Die norddeutsche Bundesverfassung ist demnach staatsrechtlich als Gesetz oktroyiert
“und zwar sofort beim Inslebentreten des neuen Bundesstaates, tatsächlich mit,
staatsrechtlich sofort nach dessen Errichtung.‘ Diese Deduktion dürfte indessen
wohl nicht geeignet sein, die Schwierigkeit zu lösen. Sie hat überhaupt mit dem in
Frage stehenden Problem gar keinen logischen Berührungspunkt. Wie aus einer ab-
soluten Monarchie eine konstitutionelle wird, oder um in dem landläufigen politischen
Jargon zu reden, auf welchen Wege eine „konstitutionelle Verfassung‘ eingeführt
werden kann, ist für unsere Frage gänzlich irrelevant. Ehe ein Staat eine Verfassung
im engeren Sinne (nach Zorns Ausdruck) bei sich herstellt, muss er doch jedenfalls
eine Verfassung im weiteren Sinne haben. Auf die letztere allein aber kommt es hier
an; wie gelangte der Norddeutsche Bund dazu, eine ‚wie immer geartete‘ (aber
rechtlich wirksame) Ordnung zu haben ? Ist dieses Stadium erst erreicht, dann
wird man leicht damit fertig werden, wie sich die Bundesgewalt „konstitutionell be-
schränkte“. Ueber dieses Stadium aber springt Zorn einfach hinweg: nach seiner
Meinung trat ‚die neue Staatsgewalt‘ faktisch ins Leben, und hat sofort ein Gesetz
behufs konstitutioneller Selbstbeschränkung oktroviert. Durch welches Organ? In
welcher Form? Kraft welcher Befugnis? Wie war diese neue Staatsgewalt recht-
lich gestaltet, wenn man sich die ‚von ihr oktroyierte‘‘ Verfassung wegdenkt? Wer
hat ihr die Befugnis verliehen, Verfassungen in engeren Sinne zu oktroyieren? Wie-
so sind die 22 Einzelstaaten ‚Faktoren‘ des neuen Bundesstaates und was geht es
den letzteren an, wozu sich jene ‚erst vertragsmässig unter sich, dann jeder einzelne
gesetzlich verpflichtet hatten‘? Von Jellinek, Lehre von den Staatenverbin-
dungen (1882) und Liebe, Zeitschrift für Staatswissensch. Bd. 38 (1882) S. 634 ff.
ist darauf hingewiesen worden, dass es überhaupt unmöglich sei, die Entstehung des
Staates juristisch zu konstruieren, weil der Staat als Voraussetzung der Rechtsord-
nung nicht durch einen Satz der erst von ihnı Sanktion empfangenden Ordnung er-
klärt werden kann. „Eine Ordnung vor der Ordnung ist ein Widerspruch in sich
selbst. Daher ist die erste Ordnung, die erste Verfassung eines Staates juristisch
nicht weiter ableitbar“ (Jellinck S. 266). Dies ist insoweit richtig, als die erste
Ordnung oder Verfassung eines Staates aus der von ihm gesetzten Rechtsordnung
nicht ableitbar und die Entstehung ‚‚des Staates aır sich“ d. h. die Entwicklung einer
öffentlichen Gewalt aus einem vorstaatlichen, der Rechtsordnung überhaupt
baren Zustande juristisch unerfassbar ist. Allein anders verhält es sich, wenn eine aner-
kannte Rechtsordnung vorhanden ist und eine Slaatsgewalt bereits besteht, an die
Stelle der bisherigen staatlichen Gestaltung aber eine neue gesetzt wird Hier können
die Vorgänge, welche zur Aufrichtung der neuen Staatsgewalt führen, allerdings
rechtlich erfasst und qualifiziert werden; freilich nieht nach der (noch gar nicht vor-
handenen) Rechtsordnung des neuen Staatsgebildes, wohl aber nach den Rechts-