Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

166 Fünfter Abschnitt: Die Funktionen des Reiches. $ 21 
  
den Erlass dieser Vorschriften wird der Vertragerfüllt; die Behörden und 
Untertanen, welche dann diese Verwaltungs-Vorschriften und Rechtssätze 
befolgen, erfüllen nicht mehr den Staatsvertrag, sondern den Befehl ihres 
Staates !). Die Richtigkeit dieser Unterscheidung zeigt sich in zweifelloser 
Weise, wenn der abgeschlossene Staatsvertrag, z. B. ein Kriegsbündnis, gar 
nicht veröffentlicht wird, oder wenn die vertragsmässige (völkerrechtliche) 
Bindung aus irgend einem Grunde fortfällt, die auf Grund des Vertrages er- 
lassenen Gesetze aber in Kraft bleiben. 
Die äussere Trennung des Vertrages, der unter den Staaten 
abgeschlossen ist, und der von den kontrahierenden Staaten zur Durch- 
führung desselben erlassenen Befehle ist aber in vielen Fällen unzweckmässig 
und mit grossen Schwierigkeiten verbunden ?). Die Verträge enthalten regel- 
mässig gegenseitige Zusicherungen, die nicht aus ihrem Zusammenhange 
gerissen werden können; sie enthalten ferner Verabredungen, welche teils 
nur die Verwaltung betreffen, teils in die Rechtsordnung eingreifen, und 
hier handelt es sich wieder teils um die Einführung neuer Verwaltungsvor- 
schriften oder neuer Rechtsregeln, teils nur um die Aufrechterhaltung und 
die Fortdauer der bestehenden Anordnungen. 
Es würde deshalb eine keineswegs leichte und einfache Aufgabe sein, 
wenn der Staat im Anschluss an den Staatsvertrag diejenigen Verfügungen, 
Verordnungen und Gesetze formulieren und erlassen sollte, welche zur Durch- 
führung des Vertrages erforderlich sind. Der Staat erleichtert und vereinfacht 
sich dies, indem er den allgemeinen Befehl erlässt, den von ihm abgeschlosse- 
nen Vertrag zu beobachten, ihm gemäss zu verwalten und zu urteilen. So- 
wie das gewöhnliche Gesetz aus zwei Teilen besteht, dem Gesetzesinhalt und 
dem den Gesetzesbefehl enthaltenden Eingang, so wird auch der Staatsver- 
trag mit einem Eingange versehen, welcher die Befolgung desselben anbe- 
fiehlt. Fast in allen Staaten, namentlich auch in der Mehrzahl der Deut- 
schen Staaten, wird dieses Verfahren beobachtet. 
In einigen Staaten hat sich jedoch ein mangelhaftes und inkorrektes Ver- 
fahren entwickelt, indem man die ausdrückliche Anordnung, den Vertrag zu 
befolgen, unterlässt. Dieser Befehl wird stillschweigend erteilt, indem er sich in 
konkludenter und zweifelloser Weise aus der Tatsache der offiziellen Verkündi- 
gung des Vortragesergibt. Dieses Verfahren war in Preussen üblich und hat 
sich aus der preussischen Praxis in diejenige des Nordd. Bundes und des Deut- 
schen Reiches eingeschlichen. Dieses inkorrekte Verfahren, bei welchem der 
Befehl, den Vertrag zu befolgen, als selbstverständlich unterdrückt wird, 
kann die Vorstellung hervorrufen, als ob Behörden und Untertanen durch den 
1) Die vielfach vertretene Ansicht, dass die Staatsbehörden durch das Völker- 
recht zur Befolgung der Staatsverträge verpflichtet seien und das Völkerrecht wie 
eine höhere Rechtsquelle über dem Staatsrecht des einzelnen Staates verbindlicheKraft 
habe, beruht auf einer Verkennung des Wesens des Völkerrechts. Dasselbe schafft ledig- 
lich zwischenstaatliches Recht und niemals innerstaatliches; es kann nur indirekt Grund 
und Veranlassung für das letztere sein. 
2) In ınanchen Fällen ist dies aber nicht zu umgehen; alsdann muss an den Staats- 
vertrag sich ein Gesetz oder eine Verordnung anschliessen. Beispiele im Staatsr. d. 
D. R. (5. Aufl.) II. S. 129.
	        
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