Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

172 Fünfter Abschnitt: Die Funktionen des Reiches. $ 21 
  
III. Der Abschluss von Staatsverträgen. 1. Art. 11 Abs. 1 der RV. be- 
stimmt: „Der Kaiser hat das Reich völkerrechtlich zu 
vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu erklären und Frieden zu 
schliessen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, 
Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen.‘ Diese Bestimmung wird aber 
ergänzt oder eingeschränkt durch Abs. 3 desselben Artikels (in.der Nordd. 
B.Verf. Abs. 2), welcher lautet: 
„Insoweit die Verträge mit fremden Staaten sich auf solche Gegenstände 
beziehen, welche nach Art. 4 in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, 
ist zu ihrem Abschluss die Zustimmung des Bundesrates und zu ihrer Gültig- 
keit die Genehmigung des Reichstages erforderlich.“ 
Dieser Artikel, dessen schlechte Fassung und Unklarheit allgemein ge- 
rügt wird, hat den Anlass zu einer ganzen Reihe von Streitfragen gegeben. 
Einverständnis besteht nur darüber, dass die formelle Legitimsa- 
tion des Kaisers zur Vertretung des Reiches im völkerrechtlichen Verkehr 
verfassungsmässig begründet ist, dass ihm die Anknüpfung und Leitung der 
Verhandlungen zusteht und dass der Abschluss des Vertrages vom Kaiser 
namens des Reiches bewirkt wird. Dagegen ist es in hohem Grade bestritten, 
von welcher Art und Bedeutung die im Abs. 3 dem Bundesrat und Reichstag 
zugewiesenen Befugnisse sind. Es sind namentlich drei Fragen von Bedeu- 
tung; nämlich ob die Legitimation des Kaisers durch Abs. 3 nach aussen 
d. h. andern Staaten gegenüber eingeschränkt wird, so dass ein Vertrag nich- 
tig ist, solange den Erfordernissen des Abs. 3 nicht genügt ist; ferner ob die 
Rechte des Bundesrats und Reichstags gleichartig oder verschiedenartig sind; 
endlich in welchem Umfange Staatsverträge unter die Vorschriften des Abs. 3 
fallen. Hier ist nun folgendes zu erwägen: 
a) Es darf als ein allgemein anerkannter Grundsatz des 
Völkerrechts betrachtet werden, dass die von einem Organe des Staates ab- 
geschlossenen Verträge für den Staat nur verbindlich sind, insoweit jenes Or- 
gan innerhalb seiner verfassungsmässigen Vertretungsbefugnis gehandelt 
hat. Wenn demnach eine Verfassung den Grundsatz aufstellt, dass der Sou- 
verän ohne Genehmigung des Landtags oder der Präsident ohne Zustimmung 
einer souveränen (gesetzgebenden) Versammlung zum Abschluss völkerrecht- 
licher Verträge nicht befugt ist, so sind Verträge, welche unter Verletzung 
einer solchen Vorschrift abgeschlossen sind, null und nichtig und sie erzeugen 
keinerlei völkerrechtliche Verpflichtungen; denn Verfassungsbestimmungen 
dieser Art heben die Legitimation (Vollmacht) des Souveräns oder Präsi- 
diums auf. 
Allein eine ganz andere F'rage ist die, ob das positive Recht eines Staates, 
welches die Genehmigung der Volksvertretung zu Staatsverträgen oder zu 
gewissen Arten desselben vorschreibt, dadurch die Legitimation des 
Staatsoberhauptes zur völkerrechtlichen Vertretung aufheben oder beschrän- 
ken will, oder ob es nur das Staatsoberhaupt bei der Vollziehung des 
Vertrages an die Mitwirkung der Volksvertretung binden will. Dass das Ge- 
setz immer beides zugleich wollen müsse, dass es mit sich selbst in Wider-
	        
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