Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

174 Fünfter Abschnitt: Die Funktiunen des Reiches. $ 21 
  
  
tenz gehören, sondern der Autonomie der Einzelstaaten unterliegen. Dies ist 
widersinnig. Der Kaiser kann über Angelegenheiten, die überhaupt nicht zur 
Zuständigkeit des Reichs gehören, auch nicht durch internationale Verträge 
verfügen. Die Worte ‚nach Art. 4“ sind ohne Bedeutung, ihre Aufnahme ist 
ein Redaktionsversehen. Dass die verfassungsmässige Begrenzung der Reichs- 
kompetenz alle Formen der staatlichen Willensäusserung umfasst und auf 
Staatsverträge ebenso anwendbar ist wie auf die Gesetzgebung, bedurfte 
keiner besonderen Festsetzung. Art. 11 Abs. 3 verwechselt offenbar ‚den 
Bereich der Reichsgesetzgebung‘‘ im Sinne von Kompetenz mit dem In- 
begriff derjenigen Gegenstände, welche das Reich in der Form der Gesetz- 
gebung erledigen muss. 
Dem Abs. 3 ist ein befriedigender Sinn nur abzugewinnen, wenn man 
ihn dahin auslegt, dass Willensakte, welche das Reich verfassungsmässig nur 
unter Zustimmung des Bundesrates und mit Genehmigung des Reichstages, 
d. h. in der im Art. 5 definierten Form des Reichsgesetzes vornehmen kann, 
an diese Erfordernisse auch dann gebunden sein sollen, wenn sich das Reich 
durch einen Staatsvertrag zur Vornahme derselben verpflichtet hat. 
Hiernach bestimmen sich die beiden Klassen von Staatsverträgen, welche 
nach Abs. 1 und 3 des Art. 11 zu unterscheiden sind, durch ein Kriterium, 
welches lediglich die Vollziehung des Vertrages betrifft. Abs. 3 hebt diejeni- 
gen Verträge heraus, welche nur mit Zustimmung des Bundesrates und Ge- 
nehmigung des Reichstages vollzogen werden können, weil zu ihrer Voll- 
ziehung ein Gesetz notwendig ist !). 
Eine Bestimmung über die Bedingungen der Vollziehbarkeit kann 
vollkommen unabhängig von den Vorschriften über die Legitimation zum 
Abschluss eines Staatsvertrages bestehen. Es ist daher durchaus nicht er- 
forderlich, die Anordnungen in Abs. 1 und Abs. 3 in der Art zu kombinieren, 
dass Abs. 3 eine Ausnahme aufstellt, durch welche die im Abs. 1 enthaltene 
allgemeine Regel für gewisse Klassen von Verträgen ausgeschlossen 
wird. Vielmehr können beide Regeln neben einander bestehen und die 
Rechtssätze enthalten: Der Kaiser ist legitimiert, Staatsverträge namens des 
Reiches abzuschliessen. Wenn zur Vollziehung eines Staatsvertrages An- 
ordnungen erforderlich sind, die in der Form des Gesetzes ergehen müssen, so 
kann der Kaiser den von ihm geschlossenen Staatsvertrag nicht zur Ausfüh- 
rung bringen, wenn nicht der Bundesrat dem Abschluss zugestimmt und der 
Reichstag die Genehmigung erteilt hat. Auch bei dieser Auslegung darf man 
aber nicht meinen, dass die Bestimmung des Abs. 3 auf die Befugnis zum 
Abschluss der Staatsverträge einflusslos sei. Es würde weder der Würde des 
Kaisers und seines Ministers noch der des Reiches entsprechen, wenn der 
Kaiser Staatsverträge abschliessen würde, die er nicht erfüllen kann, wenn 
er insbesondere den Erlass von staatlichen Befehlen (Gesetzen) zusichern 
würde, zu dem er rechtlieh gar nicht befugt ist. Der Kaiser wäre vielmehr 
1) Iliermit stimmen auch Meyer, Zorn, Levy, Prestele, Pröbst, 
Schulze, Seligmann,Anschütz, Dambitsch S. 292 fg. u. A. überein.
	        
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