Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

$ 22 Bundesglied und Reichsiand. 153 
  
  
Reichs notwendig gewesenen Ergänzungen durch das Reichsgesetz vom 25. 
Juni 1873 in Elsass-Lothringen vom 1. Januar 1874 ab eingeführt worden 
und tatsächlich wurde das Reichsland in vielen Beziehungen ganz ähnlich 
behandelt wie die Gliedstaaten. 
Dies darf aber über den Unterschied, welcher zwischen dem Reichsland 
und den Bundesstaaten besteht, nicht täuschen. Der Kernpunkt dieses Ge- 
gensatzes besteht in dem Träger der Staatsgewalt. Die Staats- 
gewalt der Bundesstaaten ist ihrem Grund und Ursprung nach völlig unab- 
hängig von der Reichsgewalt; sie wurzelt nicht in der Souveränetät des 
Reichs, sondern ist älter als die Reichsgewalt; das Reich hat nicht den Bun- 
desstaaten einen Kreis von Hoheitsrechten delegiert, sondern die Einzel- 
staaten haben durch den Eintritt in das Reich ihre Souveränetät auf die Ge- 
samtheit übertragen und ihre Landeshoheit in dem durch die Reichsverf. be- 
grenzten Umfang zurückbehalten. Dagegen wurde durch den Präli- 
minarfrieden vom 26. Februar 1871 Art. 1 ‚‚die volle Souveränetät‘ über die 
abgetretenen Gebiete von Frankreich an ‚das Deutsche Reich‘ übertragen. 
Es gab kein dem Reich gegenüber selbständiges und unabhängiges 
Subjekt, welchem die Landeshoheit über Elsass-Lothringen als eigenes 
Recht zustand, sondern das Reichsland war lediglich Objekt der Reichsge- 
walt, welches zur unbeschränkten Verfügung der letzteren stand. Während 
das Reich im übrigen Bundesgebiet auf Grund der Verfassung 
nur gewisse Hoheitsrechte und eine begrenzte Zuständigkeit hat, steht ihm 
im Reichsland auf Grund des Friedens mit Frankreich und 
als Rechtsnachfolger des französischen Staates die volle Staatsgewalt 
mit unbeschränkter Zuständigkeit zu. Wenn man auch im Reichslande 
objektiv die reichsverfassungsmässige Zuständigkeit des Reichs als 
„Reichsgewalt‘‘ von der übrigen Zuständigkeit des Reichs als ‚‚Staatsgewalt‘ 
unterscheiden kann, so stehen doch subjektiv beide Klassen von obrig- 
keitlichen Befugnissen im Reichslande demselben Berechtigten, nicht 
wie im übrigen Reichsgebiete zwei verschiedenen Subjekten zul). Das Reichs- 
  
1) Leonia.a. 0.8.3 £f. will seine Theorie, dass Elsass-Lothringen ein Staat sei, 
damit rechtfertigen, dass durch den Friedensvertrag ‚in der Rechtspersönlichkeit des 
Reichs zwei Staatsgewalten vereinigt waren, die beschränkte Reichsgewalt über die 
Bundesstaaten, die unbeschränkte Landesstaatsgewalt über Elsass-Lothringen“. Zwei 
Staatsgewalten über dasselbe Gebiet, die ineinem Subjekt vereinigt sind, sind 
aber in Wahrheit nur eine Staatsgewalt. Das Reich ist der Rechtsnachfolger Frank- 
reichs, und da Frankreich kein Bundesstaat war, so ging die volle und ungeteilte Staats- 
gewalt Frankreichs auf das Reich über. Die Behauptung, dass die Reichsgewalt ihre 
gesetzlichen Grenzen in den Bestimmungen der Reichsverfassung findet, ist nur richtig 
gegenüber den Bundesstaaten, nicht gegenüber anderen Gebietserwerbungen des Reichs, 
wie sie auch hinsichtlich der Schutzgebiete nicht zutrifft.e Wenn Leoni emphatisch 
ausruft: „In der Tat, was anderes ist die Staatsgewalt als eine Sumine von Hoheits- 
rechten, welche in bezug auf eine Gesamtheit von Menschen und ein bestimmtes Gebiet 
ausgeübt werden ? Staatsgewalt ist Herrschaft über Land und Leute usw.‘‘, so könnte 
er jedes Dorf, jedes Landgut für einen Staat erklären. Ebenso Rosenberg $. 31. 
Er übersieht gänzlich, dass die „Summe von Hoheitsrechten‘“ einem bestimmten Sub- 
jekt, einem rechtlich individualisierten Träger zustehen muss, wenn ein Staat be- 
stehen soll. Fehlt es in Elsass-Lothringen — was auch Leoni nicht zu bestreiten ver- 
— an einem von der Rechtspersönlichkeit des Reichs verschiedenen Sub- 
jekt der Staatsgewalt, so ist die unter letzterem Wort bezeichnete ‚Summe von Hoheits- 
rechten‘‘ eben eine Machtbefugnis des Reiches. — Die Ansicht, dass das Reichslandkein
	        
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