Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

184 Sechster Abschnitt: Das Reichsland und die Schutzgebiete. $ 22 
  
gesetz vom 9. Juni 1871 $ 3 Abs.1 bestimmt: ‚Die Staatsgewalt in Elsass 
und Lothringen übt der Kaiser aus.“ Der „Kaiser“ istein Organ 
des Reichs; das Kaisertum ist ein Bestandteil der Reichsverfassung; es gibt 
keine Rechte des Kaisers, die nicht ihrem Wesen nach Rechte des Reiches 
sind ; der staatsrechtliche Begriff des Kaisers ist von dem des Reiches gar nicht 
zu trennen, so wenig wie der Begriff des Bundesrats und Reichstags. Dadurch, 
dass die Ausübung der Staatsgewalt dem Kaiser übertragen und auch dem 
Bundesrat und Reichstag staatsrechtliche Funktionen in den Landesange- 
legenheiten Elsass-Lothringens zugewiesen worden sind, ist die Annahme 
einer von der Reichsgewalt verschiedenen (Landes-)Staatsgewalt völlig aus- 
geschlossen. Wie konnte es denn besser zum Ausdruck gelangen, dass die 
Landesstaatsgewalt mit der Reichsgewalt identisch ist, als dadurch, dass 
die Organe des Reichs sie ausüben. Elsass-Lothringen hat nicht die Befug- 
nis, seine eigene Verfassung zu bestimmen und sie in irgend einem Punkte zu 
ändern; die Existenz des Reichslandes beruht ausschliesslich auf dem Willen 
des Reichs; es könnte durch ein Reichsgesetz einem Bundesstaat einverleibt, 
an mehrere verteilt, zu einem selbständigen Staat konstituiert werden; seine 
Verfassung kann durch Reichsgesetze in jeder beliebigen Art verändert wer- 
den. Das Reichsland ist eine Einrichtung des Reichs; es gibt in Elsass-Lothrin- 
gen keine andere Staatsgewalt als die des Reichs, und die Landesverwaltung 
von Elsass-Lothringen ist lediglich ein Zweig der Reichsverwaltung. 
Dem Begriff des Reichslandes entsprach es, dass Elsass-Lothringen keine 
Mitgliedschaftsrechte und daher keine Stimmen im Bundesrat hatte; denn 
das Reich kann sich selbst gegenüber keine Mitgliedschaftsrechte ausüben, 
so wenig wie irgend eine andere juristische Person ihr eigenes Mitglied sein 
kann. 
II. Die Einführung der RV. stand daher mit dem Begriff des Reichs- 
landes in schroffem Widerspruch; das Vereinigungsgesetz enthielt zwei mit- 
einander unvereinbare Grundsätze, welche gleichzeitig die Fundamente 
waren, auf denen sich die Verfassung des Reichslandes aufbaute. Die prak- 
tisch wichtigste und nächste Folge der Einführung der Reichsverfassung 
war, dass die Bevölkerung von Elsass-Lothringen in gleichem Mass und in 
gleicher Weise wie die übrige Bevölkerung des Reichs an den Wahlen zum 
Reichstage teilnahm und 15 Mitglieder in denselben entsendete; da die Ein- 
wohner von Elsass-Lothringen einen Teil des Reichsvolks bildeten, wäre 
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Staat sei, ist in der Literatur die weit überwiegende. Vgl. v. Stengel, Annalen 1876 
S.8sı5fg. v. RönnelS.76. Zorn IS.5ö5lff. Joel, Annalen 1878 S. 772 fg. 
G. Meyer, Staatsr. $$ 71,138. Schulze II S. 365, 373ff. Hänel, Staatsr. I 
S. 826 ff. Stöber im Archiv f. öffentl. R.I 8. 646 ff. Arndt, Staatsr. S. 744 fg. 
Anschütz, Enzyklop. S. 559. Nur Seydel, Komment. S. 31 sieht sich durch 
seine Ansicht, dass das Reich kein Staat, sondern eine vertragsmässige Staatenverbin- 
dung sei, dazu genötigt, Elsass-Lothringen für einen Staat zu erklären. Bruck I 
S. 35 erklärt Els.-Lothr. für ein ‚Territorium im Sinne des nordamerikanischen Staats- 
rechts‘. Dies ist keine Konstruktion, sondern ein Vergleich, denn es bleibt die Frage 
offen, ob die nordamerikanischen Territorien nach den deutschen Rechtsvorstellungen 
„Staaten‘‘ sind oder was sonst. Da die Territorien in Gegensatz zu den Staaten der 
Union stehen, also nach dem Recht Amerikas jedenfalls keine ‚Staaten‘ sind, so kommt 
diese Ansicht auf eine Negation der Staatsqualität des Reichslandes hinaus.
	        
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