Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

1S6 Sechster Abschnitt: Das Reichsland und die Schutzgebiete. $ 22 
  
präsidenten von Elsass-Lothringen in Strassburg die Befugnisse ganz 
oder teilweise zu übertragen, welche nach den in Geltung stehenden fran- 
zösischen Gesetzen von den Ministerien auszuüben waren. Von dieser Er- 
mächtigung machte der Reichskanzler durch Bekanntm. v. 29. Januar 1872 für 
das ganze Gebiet der inneren Verwaltung mit wenigen Ausnahmen Gebrauch, 
so dass das Oberpräsidium weit mehr einem Ministerium als einem preussi- 
schen Oberpräsidium glich. Der Grundsatz, dass die Verwaltung des Reichs- 
lands eine Reichsverwaltung ist, wurde dadurch zwar nicht abgeändert, 
da» der Öberpräsident dem Reichskanzler untergeordnet war; tatsächlich 
wurde aber die unmittelbare Unterordnung der Landesbehörden unter den 
Reichskanzler durchbrochen, die Verwaltung von einer „Landesbehörde“ 
geführt und der der Bundesstaaten angenähert. 
3. De Beamten, welche die reichsländischen Angelegenheiten der 
Rechtsprechung und Verwaltung führten, waren Reichsbesmte und auf ihr 
Dienstverhältnis musste das Reichsbeamtengesetz ohne besondere Ein- 
führung Anwendung finden. Das Reichsbeamtengesetz mit den erforderlichen 
Ergänzungen wurde aber durch das Ges. v. 23. Dez. 1873 als ‚Landesgesetz‘ 
eingeführt. Infolge dessen fanden die späteren reichsgesetzlichen Vorschriften 
über die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten auf die ‚„Landesbeamten“ 
keine Anwendung und andererseits konnten im Wege der Landesgesetzgebung 
die Rechtsvorschriften über die Dienstverhältnisse der Landesbeamten er- 
gänzt und verändert werden, was auch in der Tat nach beiden Richtungen 
geschehen ist. Der Reichslandsdienst wurde behandelt, als wäre er ein Bundes- 
stastsdienst; die einheitliche Kategorie der Reichsbeamten wurde in zwei 
Kategorien gespalten. 
4. Da das Reichsland kein Staat war, konnte es auch keine elsass-lothrin- 
gische Staatsangehörigkeit geben; der begriffliche Unterschied zwischen 
Staatsbürgerrecht und Reichsbürgerrecht, der in dem Reichsges. v. 1. Juni 
1870 durchgeführt worden ist, hatte für das Reichsland keinen Raum. Dessen- 
ungeachtet wurde dieses Gesetz durch Ges. v. 8. Januar 1873 in Elsass- 
Lothringen eingeführt. Man fingierte, dass Elsass-Lothringen ein 
Staat sei und setzte die Landesangehörigkeit zu Elsass-Lothringen der An- 
gehörigkeit zu einem Bundesstaat gleich und erweckte dadurch den Anschein 
einer besonderen Staatsangchörigkeit. 
5. Solange die RV. in Elsass-Lothringen nicht in Geltung getreten war, 
hatte der Kaiser kraft der ihm durch das Vereinigungsges. v. 9. Juni 1871 
übertragenen Ausübung der Staatsgewalt das Rechtder Gesetzgebung; 
jedoch war er an dio Zustimmung des Bundesrats gebunden, während der 
Reichstag ausgeschaltet war, falls nicht durch Aufnahme einer Anleihe oder 
Uebernahme von Garantien eine Belastung des Reichs herbeigeführt wurde. 
Durch die Einführung der RV. fanden die Regeln über die Reichsverfassung 
auf die für das Reichsland ergehenden Gesetze vollkommene Anwendung; 
nur wurde das im RG. v. 25. Juni 1873 $ 8 dem Kaiser eingeräumte Recht, 
Verordnungen mit provisorischer Gesetzeskraft zu erlassen, aufrecht erhalten. 
Allein schon durch einen kaiserl. Erlass v. 29. Okt. 1874 (Gesetzbl. S. 37)
	        
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