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IV. Die Reichsgesetze vom 3l. Mai 1911 (RGBl. S. 225) }).
Die erwähnten 3 Rechtssätze waren als die einzigen praktischen Rechtswir-
kungen der Reichslandseigenschaft übrig geblieben; das VG. v. 31. Mai 1911
hat auch diese Ueberreste beseitigt. Die Teilnahme des Bundesrats an der
Landesgesetzgebung und die subsidiäre Zuständigkeit des Reichstags sind
aufgehoben und Elsass-Lothringen hat drei Stimmen im Bundesrat erhalten.
Die Einräumung der Bundesratsstimmen ist eine Abänderung der RV.,
nicht der Landesverfassung; das RG. v. 31. Mai 1911 enthält im Art. I einen
Zusatz zur RV. als Art. 6a und getrennt davon im Art. II die „Verfassung
von Elsass-Lothringen“. Da Elsass-Lothringen auch nach der jetzigen Ver-
fassung, wie unten näher ausgeführt werden wird, kein Mitglied des Reichs,
sondern ein seinem Gebiet eingefügtes Territorium ist, dessen unmittelbarer
Herr das Reich selbst ist, so konnten die den Bundesrat betreffenden Vor-
schriften auf Elsass-Lothringen nur vermittelst einer Fiktion anwend-
bar gemacht werden. Art. I Abs. 4 bestimmt: „Elsass-Lothringen gilt im
Sinne des Art. 6 Abs. 2 und der Art. 7 und 8 als Bundesstaat.“ Es gilt
als Bundesstaat, obgleich es keiner ist; es soll hinsichtlich bestimmter Vor-
schriften der RV. so behandelt werden als wäre es ein Bundesstaat. Die
Bundesratsstimmen Elsass-Lothringens sind auch von denen der Bundes-
glieder erheblich verschieden. Die Bevollmächtigten der Bundesstaaten wer-
den von den Landesherren oder in ihrem Namen und Auftrag instruiert;
da die Staatsgewalt in Elsass-Lothringen vom Kaiser ausgeübt wird, so müsste
ihm auch die Instruktion der elsass-lothringischen Bevollmächtigten zustehen;
da aber der Kaiser doch nicht anders stimmen kann wie der König von Preussen
‘und andererseits die elsass-lothringischen Stimmen nicht einfach den preussi-
schen zuwachsen sollten, so suchte man einen Ausweg aus diesem Dilemma
in der Art, dass der Statthalter die Bevollmächtigten zum Bundes-
rate ernennt und instruiert (Art. II $ 2 Abs. 3 des Ges.). Diese Anordnung
hat aber nur eine rein formelle Bedeutung; sachlich muss es als ganz ausge-
schlossen erscheinen, dass der Statthalter, welcher der Minister des Kaisers
ist, von ihm ernannt und jederzeit abberufen werden kann, in wichtigen
Fragen gegen den Kaiser (König von Preussen) stimme und in Opposition
zu ihm trete. Damit nun durch den Hinzutritt der elsass-lothringischen
Stimmen die Stimmen Preussens in entscheidenden Fragen nicht verstärkt
werden, bestimmt das Gesetz a. a. O. weiter, dass die elsass-lothringischen
Stimmen nicht gezählt werden, wenn die Präsidialstimme nur durch den
lagen aus dem Bereiche der Landesgesetzgebung sowie der Interessen Elsass-Lothringens
Kommissare in den Bundesrat abzuordnen, welche an dessen Beratungen, aber nicht
an den Abstimmungen teilnehmen durften.
1) Es sind zwei Gesetze, welche als Verfassungsgesetz und Wahlgesetz bezeichnet
werden; das letztere hat nur die formelle Gesetzeskraft des Landesgesetzes.
Entw. mit Motiven in den Drucksachen des Reichstags 1909/11 Nr. 581; Kommissions-
bericht daselbst Nr. 1032; Verhandl. des Reichstags v. 26. und 28. Januar und 23. und
26. Mai 1911 (Stenogr. Berichte S. 4157 ff. 7035 ff... Ausführliche Referate über die
Vorgeschichte des Gesetzes und die Verhandlungen über den Entwurf gibt Pass, Das
Zustandekommen der els.-lothr. Verfassungsreform v. 1911 und Schönborn im
Jahrb. des öffentl. Rechts VI 8. 222 ff. (1912). Gute Kommentare zu beiden Gesetzen
von Alfr. Schulze Gebweiler 1911 und Heim Strassburg 1911.