200 Sechster Abschnitt: Das Reichsland und die Schutzgebiete. $ 25
mit den deutschen kolonialpolitischen Bestrebungen kollidierten und von
welcher eine Störung und Hinderung derselben am meisten zu befürchten
war, ist Grossbritannien. Solange nicht die Interessensphären
Deutschlands und Grossbritanniens in allen in Betracht kommenden Ge-
bieten definitiv begrenzt waren, fehlte es den deutschen Schutzgebieten
an der zu ihrer Entwicklung unentbehrlichen Sicherheit, und die deutsche
Kolonialpolitik war in steter Gefahr, in Konflikte zu geraten. Aus diesen
Gründen ist als der wichtigste Fortschritt und als die unerlässliche Voraus-
setzung einer ungestörten Weiterentwicklung der deutschen Kolonial-
bestrebungen daae Deutsch-Englische Abkommen vom 1. Juli 1890
anzusehen, durch welches die beiderseitigen Interessensphären in Afrika
definitiv abgegrenzt wurden!). Für Neu-Guinea und die Südsee ist ein
gleiches Abkommen schon am 6. April 1886 abgeschlossen worden ?). Eben-
so sind mit Frankreich durch Vertrag vom 24. Dezember 1885 und mit
Portugal durch Vertrag vom 30. Dezember 1886 die Grenzen der Schutz-
gebiete, beziehentl. Interessensphären in Afrika festgestellt worden. Obgleich
diese Interessensphären einer staatsrechtlichen Gewalt des Reichs nicht
unterliegen, so bilden sie doch eine völkerrechtliche Reservation für die Ent-
faltung einer Herrschaft und sind dazu bestimmt, allmählich in wirkliche
Schutzgebiete umgewandelt zu werden. Dem entspricht es, dass der Reichs-
kanzler durch die V. v. 2. Mai 1894 (Reichsgesetzbl. S. 461) ermächtigt worden
ist, in denjenigen Gebieten, deren Vereinigung mit dem Schutzgebiet ange-
zeigt erscheint, die hierzu erforderlichen Anordnungen in Betreff der Organi-
sation der Verwaltung und Rechtspflege nach Massgabe der für das Schutz-
gebiet geltenden Vorschriften zu treffen.
II. Die dem Deutschen Reiche an den angeführten Landgebieten zu-
stehenden Rechte werden als Schutzgewalt bezeichnet ?2). Zur Bestim-
mung der juristischen Natur derselben dienen folgende Punkte:
1. Zunächst ist es zweifellos, dass die Schutzgewalt einen territori-
alen Charakter hat, also durchaus verschieden ist von dem im Art. 3 Abs. 6
der Reichsverf. erwähnten ‚Schutz des Reiches‘, auf welchen ‚‚alle Deut-
schen‘ gleichmässig Anspruch haben. Bei der Errichtung sämtlicher Pro-
tektorate hat dies unzweifelhaft Ausdruck gefunden. Die Schutzgewalt ist
über die Häuptlinge, deren Untertanen und Gebiete übernommen worden;
Gegenstand der Okkupation oder Abtretung waren räumlich abgegrenzte
Gebiete.
2. Das Schutzverhältnis hat nicht einen bloss völkerrechtlichen, sondern
einen staatsrechtlichen Charakter. Die Entstehung des Verhält-
nisses ist dafür nicht entscheidend, sondern der Inhalt, die Art der Rechte.
In allen mit den Häuptlingen Afrikas abgeschlossenen Verträgen sind dem
1) Der Vertrag ist abgedr. in den Drucks. des Beichstages 1890 Nr. 166 S. 1. Eine
nachträgl. Vereinbarung siche im Reichsanzeiger v. 28. Juli 1893. Eine Zusammenstel-
lung aller dieser Verträge gibt Stengelin Hirths Annalen 1885 S. 537 ££.
2) Abgedr. in den Drucks. des Reich:tags 1885/1886 Nr. 291.
3) Die von Hänel, Staatsr. T S. 841 ff. aufgestellte Unterscheidung zwischen
Schutzgewalt und Kolonialgewalt ist weder im positiven Recht noch in der Natur der
Sache begründet.