Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

906 Sechster Abschnitt: Das Reichsland und die Schutzgebiete. $ 25 
  
worfen, auf welchem Rechtsgrunde die Zuständigkeit des Reichs zur Schutz- 
gebietsgesetzgebung und die Beobachtung der in der RV. vorgeschriebenen 
Formen für die Ausübung derselben beruhen. Die Versuche, dieselbe auf Art. 4 
Ziff. 1’) oder auf Art. 11?) der RV.zu gründen, sind verfehlt; denn Art. 4 
grenzt nur die Kompetenz des Reichs gegenüber den Einzelstaaten ab und 
Art. 11 Abs. 1 betrifft nur die völkerrechtliche Vertretung des Reichs gegen 
fremde Staaten; das Verhältnis des Reichs zu den Schutzgebieten ist aber 
weder dem Verhältnis des Reichs zu den Bundesstaaten gleichartig noch ist 
es ein völkerrechtliches. Die radikale Ansicht, dass die ganze Schutzgebiets- 
gesetzgebung und die Tätigkeit der Reichsorgane in den Angelegenheiten der 
Schutzgebiete der verfassungsmässigen Grundlage entbehre und daher 
unrechtmässig sei, widerspricht der unleugbaren Tatsache ihrer unangefochte- 
nen Geltung und der zu allen Zeiten ausnahmslos ohne rechtliches Bedenken 
geübten Praxis. Man hat daher grossen Scharfsinn aufgewendet, um nach- 
zuweisen, dass wenigstens einzelne Sätze der RV., insbesondere Art. 5 oder auch 
Art. 2 und Art. 17 durch Gewohnheitsrecht oder stillschweigend durch tat- 
sächliche Befolgung in den Schutzgebieten Geltung erlangt haben ?). Dies 
sind aber Fiktionen, welche den Mangel der Einführung der RV. in den Schutz- 
gebieten nicht ersetzen können; an der Tatsache, dass die RV. in den Schutz- 
gebieten nicht gilt, weil sie nicht eingeführt ist, kann keine theoretische 
Fiktion etwas ändern. In Wahrheit bestehen aber diese Schwierigkeiten, die 
nan glaubt beseitigen zu müssen, garnicht. Die Schutzgewalt ist keine von 
der Reichsgewalt verschiedene Staatsgewalt; es handelt sich bei der Schutz- 
gebietsgesetzgebung und -Verwaltung um Akte des Reichs. Das Reich 
hat durch den Erwerb der Schutzgebiete seine Souveränetät über dieselben 
erstreckt und bringt seine Staatsgewalt über dieselben, wieinallen an- 
deren Reichsangelegenheiten durch seine verfassungsmäs- 
sigen Organe und in den verfassungsmässigen Formen zur Ausführung. 
Die Schutzgobiete befinden sich in derselben Lage wie Els.-Lothr. vor Ein- 
führung der RV. Die Zuständigkeit des Reichs zur Schutzgebietsgesetz- 
gebung beruht auf der Herrschaft des Reichs über die Schutzgebiete 
und die Beobachtung der verfassungsrechtlichen Regeln darauf, dass sie für 
Akte des Reichs gelten, nicht darauf, dass die RV. oder einzelne Artikel 
derselben in den Schutzgebieten gelten. Daher ist der Weg der Reichs- 
gesetzgebung für alle die Schutzgebiete betreffenden Angelegenheiten 
die verfassungsmässig zulässige und rechtlich wirksame Form; dagegen 
setzen die Vorschriften im Art. 7 Ziff. 2 und 3 über die Befugnisse des 
Bundesrats u. im Art. 17 über die Zuständigkeit des Kaisers das Vorhanden- 
  
1) Hänel, Staatsrecht I S. 839 Note 6. 
2) Bornhak 8.13 v. Stengel, Staatsrechtl. Stellung S. 56. 
3)v Hoffmann, Zeitschr. f. Kolonialgesetzgeb. 1905 S. 365 ff. Sassen 
S.341 ff. Giese 8. 429. Noch weiter geht v. Böckmann, Die Geltung der RV. 
in den deutschen Kolonien. Karlsr. 1912, der für die Geltung der RV. in den Schutz- 
gebieten eine Einführung der RV. überhaupt nicht für erforderlich hält, was unbedingt 
abzulehnen ist. Er hat meine Ausführungen in der 5. Aufl. des D. Staatsrechts Bd. II 
S. 290 ff. noch nicht gekannt, kommt aber denselben S. 143 im Resultat nahe; mit 
seinen theoretischen Erörterungen kann ich mich jedoch in keinem Punkt einverstanden 
erklären.
	        
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