82 Staatenbund und Bundesstaat. 9
Reichs. Die Gebiete der Gliedstaaten sind mittelbar Reichsgebiet, die Bürger
der Gliedstaaten sind mittelbar Reichsuntertanen. Das Wesen des Reichs
besteht in einer Mediatisierung der Staaten, nicht in ihrer Unterdrückung
oder Auflösung; der Gliedstaat ist nach unten Herr; nach oben Untertan.
Dom entspricht es, dass das Reich die Erzwingung des Gehorsams gegen die
Reichsgesetze regelmässig den Einzelstaaten überlässt und dieReichsverfassung
eine Bundesexekution nur gegen die Staaten, nicht gegen die Indivi-
duen kennt. Die staatliche Zwangsgewalt wird gegen die Individuen vom
Reich regelmässig nicht direkt, sondern durch Vermittlung der Gliedstaaten
ausgeübt!). Diesist das Kriterium der mittelbaren Beherr-
schung.
Es wird hierdurch nicht ausgeschlossen, dass die Reichsgewalt in ein-
zelnen Beziehungen ihre Hoheitsrechtte unmittelbar gegen das
Reichsgebiet oder gegen die Angehörigen des Reichs ausübt, also die Einzel-
staaten hinsichtlich gewisser Betätigungen der Reichsgewalt nicht bloss media-
tisiert, sondern gänzlich ausser Funktion setzt. Andererseits ist es ebenso-
wenig erforderlich, dass die Staatsgewalt der Einzelstaaten in allen Be-
ziehungen mediatisiert sei; es kann den Gliedstaaten ein Kreis von Aufgaben
verbleiben, von welchem sich das Reich in bewusster und gewollter Selbst-
beschränkung fern hält. Das Wesen des zusammengesetzten Staats wird hier-
durch nicht verändert; denn das begrifflich wesentliche Merkmal desselben
besteht lediglich darin, dass eine Mehrzahl von Staaten einer Oberstaats-
gewalt unterworfen ist.
III. Nicht jeder zusammengesetzte Staat oder Staatenstaatist Bundes-
staat. Von einem Bunde spricht man, im Gegensatz zum Hegemonie- oder
Vasallenstaat, nur in dem Falle, dass die souveräne Staatsgewalt der Gesanıt-
heit der Mitgliedstaaten zusteht. Es gibt kein Beispiel eines zusammen-
1) In der Literatur des Reichsstaatsrechts wird fast durchweg angenonimen, dass
die Reichsgewalt unmittelbar die Individuen beherrsche, ja es wird gerade darin
die bundesstaatliche Natur des Reichs gesehen; aber es fehlt stets an dern Nachweise,
wie diese unmittelbare Herrschaft, d. h. der staatliche Gehorsamszwang,
verwirklicht wird. Dass die Reichsgesetze keiner Verkündigung durch die Einzelstaaten
bedürfen, kommt hierbei nicht in Betracht, sondern nur wer sie handhabt und ihnen
Gehorsam verschafft. Dasselbe gilt von der Gerichtsbarkeit des Reichs; die Reichs-
gerichte können Urteile sprechen, aber sie nicht vollstrecken; die Strafvollstreckung
und die Vollstreckung der Zivilurteile erfolgt durch die Staatsgewalt der Einzelstaaten,
die Verkehrsanstalten (Post usw.) üben überhaupt keine Hoerrschaftsrechte aus. In
der Marine beruht die Zwangsgewalt des Reichs nicht auf der Untertanschaft, sondern
auf dem besonderen militärischen Dienstverhältnis; ebenso die Gewalt über die Reichs-
beamten auf dem Staatsdienstverhältnis derselben. Es bleiben also nur einige frag-
mentarische Vorbehalte übrig für den Fall aussergewöhnlicher Ereignisse (grosser Epi-
demien, Seuchen usw.) und auch nur für den Fall, dass die Einzelstaatsgewalt nicht
genügen sollte. Wenngleich daher das Reich innerhalb seiner Zuständigkeit Gesetzes-,
Urteils- und Verwaltungsbefehle erlassen kann, welche keiner Bestätigung der Einzel-
staaten zu ihrer Rechtswirksamkeit bedürfen, so ist doch die Befolgung dieser Befchle
seitens der Untertanen regelmässig nur durch Vermittlung der Einzelstaaten und der
ihnen zustehenden Zwangsgewalt gesichert. Das Reich kann die Einzelstaaten zur
Ausübung dieser Funktion anhalten, nötigenfalls durch die Bundesexekution, und in
diesem Falle, wenn er jemals eintreten sollte, diese Funktion an Stolle des Einzel-
staates selbst ausüben. Durch diese Erörterung wird keineswegs die selbständige
Staatsgewalt des Reichs verneint; auch die mittelbare Beherrschung ist Staats-
gewalt, wie auf dem Gebiet des Privatrechts mittelbarer Besitz Sachherrschaft ist.