933 Zweiter Abschnitt: Das rechtliche Verhältnis d. Reiches zu den Gliedstaaten. $ 3
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gesetzten Staatswesens, welches man als Bund oder Bundesstaat je bezeichnet
hätte, in welchem nicht den Einzelstaaten ein Anteil an dem Zustande-
kommen und der Betätigung des Gesamtstaatswillens zugestanden hätte. Für
das genus, den zusammengesetzten Staat, ist eine bestimmte Organisation
kein begriffliches Erfordernis; dagegen die species, der Bundesstaat, wird
gerade durch eine gewisse Form der Organisation, nämlich durch die Teil-
nahme der Einzelstaaten an der Herstellung des Gesamtwillens, begrifflich be-
stimmt. Die Gliedstaaten sind nicht einem von ihnen verschiedenen physischen
Herrn, sondern einer ideellen Person, deren Substrat sie selbst sind, staatlich
untergeordnet.
$3. Die rechtlicheNatur desReichs. Nach Feststellung der
allgemeinen Begriffe des Staatenbundes und des Bundesstaates als einer Unter-
art des Staatenstaates ist nunmehr die Frage zu erörtern, welchem dieser
beiden Begriffe das Deutsche Reich unterzuordnen ist, mit anderen Worten:
ob das Reich eine juristische Person des öffentlichen Rechts oder ein (völker-
rechtliches) Rechtsverhältnis unter den Deutschen Staaten ist? Massgebend
für die Beantwortung dieser Frage sind nicht Umfang und Wichtigkeit der
vom Reich gehandhabten Befugnisse, sondern dierachtliche Unab-
hängigkeit der dem Reiche zustehenden Willens- und Rechtssphäre von
derjenigen der Einzelstaaten.
Diese Selbständigkeit ergibt sich aus Folgendem:
1. Entscheidend ist die Bestimmung in Art. 78 der RV., wonach Ver-
änderungen der Reichsverfassung mit Einschluss der Anordnungen derselben
über die Kompetenz des Reiches durch ein Reichsgesetz getroffen
werden können. Hiernach ist die Kompetenz des Reiches nicht nur in dem
weiten, alle Gebiete des Staatslebens ohne Ausnahme berührenden Um-
fange, welchen die gegenwärtigen im Art. 4 der RV. enthaltenen Sätze ergeben,
fostgestellt, sondern sie ist überhaupt nicht definitiv fixiert; es ist vielmehr
dem Reiche die rechtliche Befugnis gegeben, durch Majoritätsbeschluss seine
Kompetenz schrankenlos auszudehnen, soweit nur der Bereich seiner physi-
schen Macht und seines vernunftgemässen Wollens reicht. Dass die dazu
erforderliche Majorität eine verstärkte ist, wirkt politisch als eine Sicherung;
rechtlich kommt es nur darauf an, dass nicht Einstimmigkeit der Bundes-
staaten erfordert ist. Dass der einzelne Staat in der Minderheit bleiben
kann, dass er verfassungsgemäss verpflichtet ist, die Einwirkung des Rei-
ches auf solche Hoheitsrechte zu dulden, die bei der Gründung des Reiches
demselben nicht zugewiesen worden sind, selbst wenn er dieser Ausdehnung
seinen Widerspruch entgegensetzt, das macht ihn zum Objekt eines höheren
Willens. Nicht nur materiell ist eine Kompetenz-Erweiterung des Reiches von
dem Erfordernis der Einstimmigkeit frei, auch formell erfolgt dieselbe nicht
durch einen Vertrag, sondern durch ein Gesetz, nicht in der Gestalt der Be-
tätigung oder Ausübung des Willens der Einzelstaaten, sondern in der Gestalt
oinersie bindenden Rechtsnorm, der Betätigung eines über
ihnen stehenden Herrscherwillens. Es ist eine unabweisbare Konsequenz aus
Art. 78, dass die gesamte Rechtssphäre der Einzel-