Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

3 Die rechtliche Natur des Reiches. 23 
  
  
staaten zur Disposition des verfassungsmässig er- 
klärten Willens des Reiches steht. Durch diesen Satz aber 
ist die Souveränetät, das ausschliessliche Selbstbestimmungsrecht, der Einzel- 
staaten verneint und die Souveränetät des Reiches anerkannt }). 
2. Im Zusammenhange hiermit steht der im Art. 2 der RV. ausge- 
sprochene Grundsatz, dass die Reichsgesetze den Landes- 
gesetzen vorgehen. Es ist dies eine logische Konsequenz davon, dass 
das Reich die souveräne, d. i. höchste Gewalt besitzt, da das vom Reich 
erlassene Gesetz im Verhältnis zum Landesgesetz als der Befehl einer höheren 
Macht sich qualifiziert. Aber dis verfassungsmässige Anerkennung dieses 
Satzes ist andererseits auch ein Symptom, aus welchem sich auf die Natur 
des Reiches und auf das durch dieselbe gegebene Verhältnis zwischen Reich 
und Einzelstaat ein Rückschluss gewinnen lässt. In einem Staatenbund kann 
os keine höhere Autorität geben als die des Landesgesetzes; die sogenannten 
Bundesgesetze sind übereinstimmende, materiell gleiche, Landesgesetze; sie 
gelten in jedem zum Bunde gehörigen Staate kraft partikulärer Sanktion 
und deshalb gehen die Einführungsgesetze der Einzelstaaten oder spätere 
Landzsgesetze den von den Bundesorganen vereinbarten Gesetzen vor?). 
Dies war beispielsweise der Fall hinsichtlich der Wechselordnung und des 
Handelsgesetzbuchs vor der Erklärung dieser Gesetze zu Gesetzen des 
Norddeutschen Bundes und Deutschen Reiches. Der Vorrang der Landes- 
gesetzgebung vor den Bundesbeschlüssen ist ein untrügliches Kennzeichen 
dafür, dass das Bundesverhältnis ein vertragsmässiges, völkerrechtliches ist. 
Ebenso ist umgekehrt der unbedingte Vorrang der Reichsgesetze vor den 
Landesgesetzen, wie ihn die Reichsverfassung feststellt, die Negation der 
Souveränetät der Einzelstaaten, die Anerkennung einer über ihnen stehenden, 
sie rechtlich verpflichtenden Herrschermacht. 
3. Das Reich hat zur Herstellung seines Willens eigene Organe, 
welche nicht eine Vereinigung der Willensorgane der Einzelstaaten und ebenso- 
wenig gemeinschaftliche Organe der Regierungen und Bevölkerungen der Ein- 
zelstaaten sind. Ein Beschluss des Bundesrats kann nicht vertreten oder ersetzt 
werden durch einen Austausch von übereinstimmenden Erklärungen sämtlicher 
Einzelstaatregierungen; ein Beschluss des Reichstages kann nicht vertreten 
oder ersetzt werden durch übereinstimmende Beschlüsse sämtlicher Landtage 
der Einzelstaaten. Ein in allen deutschen Staaten mit gleichem Wortlaut 
1) Sehr richtig sagt Hänel, Studien I S. 240, dass das Reich ausschliesslich 
souverän ist, „denn mit der souveränen Bestimmung seiner eigenen Kompetenz be- 
stimmt es in endgültiger entscheidender Weise über den Umfang der Kompetenz der 
Einzelstaaten, die um deswillen souverän nicht sein können. Damit ist das Reich eine 
Potenz über den Einzelstaaten auch in der Rechtssphäre, welche nach Massgabe 
der bestehenden Bestimmungen der Verfassung ihrer Selbständigkeit und ihrer Wirk- 
samkeit nach der Weise von Staaten anheimfällt“. Vgl. auch die treffenden Bemer- 
kungen vonZorn IS.76ff.u. Hänel, Staatsrecht I S. 769 ff. Uebereinstimmend 
auch Anschütz S. 513. Eine Bestätigung liefert die große und stets fortschreitende 
Erweiterung der Reichszuständigkeit, welche ich im Jahrb. des öff. Rechts Bd. I 8.1 ff. 
im einzelnen dargestellt habe. 
2) Unberührt hiervon bleibt natürlich die Frage, ob ein Staat durch Abänderung 
oder Nichtverkündigung der vereinbarten Gesetze eine Verletzung des Bundesvertrages 
sich zu Schulden komnien lässt oder nicht.
	        
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