94 Zweiter Abschnitt: Das rechtliche Verhältnis d. Reiches zu den Gliedstaaten. $ 4
erlassenes Gesetz wird dadurch, dass diese Staaten untereinander überein-
kommen, nur unter allseitiger Zustimmung dasselbe zu verändern oder auf-
zuheben, noch kein Reichsgesetz; es kann wie alle anderen Landesgesetze
durch ein Reichsgesetz, welches nur mit der verfassungsmässigen Bundesrats-
Majorität beschlossen worden ist, in allen Staaten beseitigt werden. Anderer-
seits kann ein Reichsgesetz dadurch nicht weggeschafft werden, dass sämt-
liche Staaten seine Aufhebung beschliessen, falls der Reichstag in die Auf-
hebung nicht einwilligt!). Bundesrat und Reichstag sind daher nicht Apparate,
um den Sonderwillen der Einzelstaaten zu sammeln und das Resultat dieser
zusammengezählten Einzelwillen herzustellen ?), sondern sie sind Organe für
die Herstellung eines selbständigen einheitlichen Willens, der in Kontrast
treten kann selbst mit den übereinstimmenden Willensentschlüssen sämtlicher
Einzelstaaten. Hierdurch wird es völlig zweifellos, dass der Wille des Reichs
nicht die Summe der Willen der Einzelstaaten, auch nicht der Majorität
derselben ist. Auch die Reichsbehörden sind nicht gemeinschaftliche Behörden
der Einzelstaaten, welche ihre Zuständigkeit und Amtsgewalt von der Staats-
gewalt der letzteren ableiten, sondern sie sind Organe eines einheitlichen, selb-
ständigen, den Einzelstaaten übergeordneten Staatswesens ?).
$4. DasSubjektder Reichsgewalt. Das Reich ist, wie sich
aus den vorhergehenden Erörterungen ergibt, ein souveräner Staat, ein Sub-
jekt unabhängiger Herrschaftsrechte, also eine juristische Person
des öffentlichen Rechts. Es erhebt sich demnach die Frage, welches ist das
Substrat dieser Person? Im allgemeinen ist es nun völlig zweifellos, dass
jeder Staat ein Volk voraussetzt, da er seinem Wesen nach eben die recht-
liche Ordnung einer Volksgemeinschaft darstellt; dass sonach das Volk als
das Substrat der Staatspersönlichkeit anzusehen ist. Auch für das Deutsche
Reich gilt dieser Satz. Man kann sich das Deutsche Reich nicht ohne das
deutsche Volk vorstellen, und sowie das Reich als Person (Herrschaftssubjekt)
eine begriffliche Einheit ist, so wird auch durch diese einheitliche staatliche
Organisation das deutsche Volk, soweit es von derselben ergriffen worden ist,
zu einer Einheit verbunden. Allein die konkrete staatsrechtliche Gestaltung,
welche im Deutschen Reich verwirklicht ist, wird durch die unmittel-
bare Beziehung der Reichspersönlichkeit auf das Volk nicht zum richtigen
Ausdruck gebracht. Es ergibt sich dies aus dem historischen und juristischen
Vorgang der Reichsgründung und aus der Struktur der Verfassung. Das
deutsche Volk war bei der Errichtung des Norddeutschen Bundes und des
1) Daher steht die, bisweilen zum Ausdruck gekommene Ansicht, siehe besonders
v. Jagemann, Reichsverf. S. 30, daß die deutschen Landesherren durch eine Ueber-
einkunft das Reich auflösen und einen anderen .‚Bund‘“ mit einer anderen Verfassung
an seine Stelle setzen können, im Widerspruch mit Art.78 der RV. und der staatlichen
Natur des Reiches. Ein solcher Vorgang würde ein Staatsstreich sein. Vgl. meine Ausf.
in d. Jur.-Zeit. 1904 S. 561 fg. Gegen die Ansicht v. Jagemanns hat sich auch
Graf Posadowskyin der Reichstagssitzung vom 24. Januar 1905 erklärt.
2) Dies war die Aufgabe des Bundestages im ehemaligen Deutschen Bunde. Auch
der jetzige Bundesrat kann ausserhalb seiner reichsverfassungsmässigen Zuständig-
keit dazu dienen, Vereinbarungen der Landesregierungen über die gleichmässige Behand-
lung gewisser Angelegenheiten zu erzielen. Siehe unten $ 11.
3) Entscheidung des Reichsgerichts in Zivilsachen Bd, 44 S. 380; Bd. 55 S. 139.