4 Das Subjekt der Reichsgewalt. 95
Deutschen Reiches nicht eine politisch oder staatsrechtlich unorganisierte
Masse, nicht ein Volkshaufen als Naturprodukt, sondern es war in eine Anzahl
von „Staatsvölkern‘‘ zerlegt, von denen jedes einzelne seine verfassungs-
mässige Organisation, seine staatsrechtliche Persönlichkeit besass. Diese Or-
ganisation ist nicht behufs Gründung eines gemeinsamen Staatsverbandes
zerstört und aufgelöst worden oder auch nur unberücksichtigt geblieben oder
als etwas Nebensächliches behandelt worden. Vom Standpunkte der histo
rischen Spekulation aus mag man die Reichsgründung als eine Tat des Deut-
schen Volkes oder als eine Evolution seiner politischen Verfassung bezeichnen ;
die staatsrechtliche Betrachtung muss sich ausschliesslich auf die rechtlich
relevanten Vorgänge beschränken. Von diesem Gesichtspunkte aus er-
scheint aber die Gründung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen
Reiches nicht als eine Tat des Deutschen ‚‚Volkes‘‘, sondern als eine Tat der
im Jahre 1867 resp. 1870 vorhanden gewesenen Deutschen Staaten; alle
Akte, welche die Errichtung des Bundesstaates herbeiführten, waren Akte
dieser Staatspersönlichkeiten. Durch Eintritt in denselben gaben sie ihre
Souveränetät, aber nicht ihre staatliche Persönlichkeit auf; ihre rechtliche
Individualität dauerte kontinuierlich fort und wurde die wesentliche Grund-
lage der bundesstaatlichen Gesamtperson.
Man darf daher für die juristische Konstruktion des Reichsverbandes
nicht die Fiktion zu Grunde legen, dass die Einzelstaaten in dem neu ge-
gründeten Reich zunächst untergingen und dann sofort von dem Reich neu
geschaffen und mit gewissen Hoheitsrechten ausgestattet worden sind !).
Die Gründung des Reiches war vielmehr die Herstellung einer Staatsgewalt
über den Staaten; die letzteren sind die Mitglieder des Reiches ?) und
bilden das Substrat der Reichspersönlichkeit.
Man bat gegen die Auffassung des Bundesstaates als einer juristischen
Person des öffentlichen Rechts eingewendet, dass die juristische Person nur
innerhalb der staatlichen Rechtsordnung existiere, nur als Schöpfung
des Staates rechtliche Bedeutung besitze und deshalb nicht zur Charakteri-
sierung des Staates selbst verwendat werden könne °). Dies ist ein Missvor-
ständnis. DieRechtsverbindlichkeit der Bundesstaatsverfassung
kann man freilich dadurch nicht begründen, dass man den Bundesstaat als
eine juristische Person bezeichnet; der Rechtsgrund der Staatsgewalt und der
Staatsverfassung lässt sich nicht mit einer juristischen Formel nachweisen.
Allein die „juristische Person“ ist eine juristische Begriffskategorie und des-
halb ebensowenig eine Schöpfung des Staates oder des Gesetzgebers wie der
Begriff des Vertrages, des dinglichen Rechts, der Obligation. Sie dient nur
dazu, um einen Komplex von Rechtssätzen logisch zu begreifen, einheitlich
zu erfassen. Auch für den Einheitsstaat ist es nicht etwas Nichtssagendes und
Ueberflüssiges, wenn man ihn als juristische Person erklärt; denn die Vor-
1) Se Zorn, 1. 72 ff. Borel, S. 71, 141; früher auch”’Jellinek, Staaten-
verb. 8. 44 ff., 271 ff., 281 ff. er hat sich aber später der im Text entwickelten Ansicht
angeschlossen. Ges. u. Verordn. 8. 201 fg. Allg. Staatsl. 2. Aufl. 8. 275.
2) Dies ist auch in der Reichsverf. Art. 6 ausdrücklich anerkannt. Vgl. Art. 7
19. 41 Abs. 1. — 3) Seydel, Hirths Annalen 1876, S. 648 ff. v’Martitz, 8. 507.