Die Gerichtsbarkeit. 335
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des Staates zu leihen sei oder nicht. Die Gerichte sind Verwalter der staat-
lichen Herrschermacht und ihre Urteile sind keine von Staats wegen
erteilten Rechtsgutachten oder Wahrsprüche, sondern Betätigungen der
Staatsgewalt. Das kondemnatorische Urteil ist nicht bloss Fest-
stellung des konkreten Rechts, sondern zugleich Befehlan den Verklag-
ten, den Rechtsanspruch zu erfüllen, unter der Drohung, dass im Falle des
Zuwiderhandelns auf Verlangen des Klägers die Befolgung dieses Befehls
durch die Staatsgewalt und durch die physischen Machtmittel des Staates
erzwungen werden würde. Aber nicht nur an die Parteien ist dieser Be-
fehl gerichtet, sondern er erstreckt seine Wirkungen auch auf die Staats-
behörden, insbesondere auf die Gerichte selbst. Auch sie haben das rechts-
kräftige Urteil als die staatlich anerkannte und mit Rechtsschutz ausgestattete
Normierung eines Rechtsverhältnisses anzusehen und es bei den weiteren
Verfügungen, z. B. zum Zweck der Sicherstellung oder Vollstreckung oder
ferneren (konsekutiven) Entscheidungen zu befolgen, ohne dass es ihnen ge-
stattet ist, die Richtigkeit desselben in Frage zu ziehen. Dies alles gilt auch
von den sogen. Feststellungsurteilen. Auch sie enthalten die Imperative an
die Parteien wie an die Organe der Rechtspflege, sich so zu verhalten, wie es
den aus dem Urteil abzuleitenden logischen Schlussfolgerungen entspricht.
Nur in dem letzteren Bestandteil des Urteils, in der Bereitstellung der staat-
lichen Macht zur Sicherung des urteilsmässig festgestellten, subjektiven Rechts,
liegt die spezifischstaatsrechtliche Funktion, die „staatliche Rechts-
kraft‘“ des Urteils !).
Auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts ist die Bedeutung der Gerichts-
barkeit eine andere; es gilt dies insbesondere von der, uns hier vorzugsweise
interessierenden Strafgerichtsbarkeit. Der Staat hat die selbständige Ver-
pflichtung, gegen den Bruch der Rechtsordnung mittelst seiner Strafgewalt
zu reagieren; er stellt nicht seine Macht einem Individuum zum Schutz sei-
ner Rechte zur Verfügung, sondern er übt diese Macht im eigenen Interesse,
zur Aufrechterhaltung seiner eigenen Rechtsordnung aus. Damit dieselbe
aber in jedem einzelnen Falle ohne Willkür oder Parteilichkeit sich vollziehe,
ist ihre Ausübung an einen gesetzlich bestimmten Weg gewiesen; die Voll-
streckung der Strafe soll sich nicht nach Art der Rache unmittelbar an die ver-
brecherische Tat schliessen, sondern es soll ein Urteil des Gerichts dazwischen
treten, durch welches die Schuld und die Strafe nach Massgabe der objektiven
Rechtsnormen und der Umstände des Falles festgestellt werden ?). So wie das
Urteil im Zivilprozess das Recht in concreto feststellt und sanktio-
1) Dieser Auffassung der Klage im Zivilprozess als des öffentlich-recht-
lichen Anspruchs auf Rechtsschutz stimınen unter den neuesten Schriftstellern u. a.
zu: Hellwig, Klagrecht und Klagmöglichk. 1905 8. 2 ff. u. Lehrb. des Zivilproz. I
S. 148 (1903); Pagenstecher, materielle Rechtskraft, Berlin 1905, S. 29 ff. 34 ff.-
Rich. Schmidt, Lehrb. des D. Zivilproz. (2. Aufl. 1906) S.1,8 ff. Vgl. auch Ja-
mes Goldschmidt, Materielles Justizrecht, Berl. 1905 S. 6 ff., welcher ausführt,
dass der Anspruch nicht dem Prozessrecht, sondern dem Staatsrecht angehört, was
wohl auch von denjenigen Prozessualisten, gegen welche er eine Polemik führt, nicht
verkannt wird.
2) Vgl. Heinze im Gerichtssal Bd. XXVIII S. 561ff. John, Strafprozess-
ordnung II. S. 105 ff. v. Kries in der Zeitschr. f. die ges. Strafrechtswissensch. IX