336 Achter Abschnitt: Das Gerichtswesen. $ 35
niert, so wird der Staat und dem Angeklagten durch das strafprozessua-
liche Urteil das Strafrecht in concreto gefunden. Auch im Strafprozess ist
das Urteil kein blosser Wahrspruch über Schuld und Nichtschuld des An-
geklagten und das kondemnatorische Urteil kein blosses Gutachten darüber,
welche Strafe dem Recht in concreto entsprechend sei, sondern ein Befehl,
die Strafe zu vollziehen. Auch hier zeigt sich der staatsrechtliche Charakter
des Urteils in seiner Vollstreckbarkeit.
Auch in der streitigen Gerichtsbarkeit äussert sich demnach die Staats-
gewalt in der ihr eigentümlichen Form, nämlich als Befehl, und man muss
dem Gesetzesbefehl (siehe oben S. 116 fg.) nicht bloss den Ver wal-
tungsbefehl (siehe 8. 156 fg.), sondern auch den Urteilsbefehl
gegenüberstellen. Die beiden letzteren haben das mit einander gemein im Ge-
gensatz zum Gesetzesbefehl, dass sie nicht wie dieser eine abstrakte Norm
aufstellen, sondern einen konkreten Fall betreffen; sie unterscheiden sich aber
voneinander dadurch, dass bei den Verwaltungsbefehlen der Staat ein sach-
liches Interesse an ihrem Inhalt hat und dass deshalb der letztere sich mit
Rücksicht auf die zu erreichenden Zwecke bestimmt, bei den Urteilsbefehlen
dagegen der Staat nur daran ein Interesse nimmt, dass dasjenige geschieht,
was das objektive Recht im konkreten Falle gebietet, und dass er deshalb
durch ein geeignetes Verfahren und einen Wahrspruch des Gerichts zunächst
das konkrete Recht finden lässt !). Der Urteilsbefehl ist in allen Fällen auf
den gleichen und stereotypen Inhalt zurückzuführen: ‚Es soll dasjenige ge-
schehen, was in concreto als dem Recht entsprechend durch Urteil festgestellt
worden ist.“ Die Entscheidung im einzelnen Falle gibt die Ausfüllung dieser
allgemeinen Schablone mit einem konkreten Inhalt. Hieran darf man sich
nicht durch die tatsächliche Erscheinung beirren lassen, dass die Urteile ihrem
Wortlaute nach gewöhnlich keinen Befehl enthalten. Der besonderen und
eigengearteten Natur des Urteilsbefehls entspricht die spezifische Wirkung
desselben, welche weder dem Gesetzesbefehl noch dem Verwaltungsbefehl
(Verfügung) zukommen kann, nämlich die Rechtskraft der endgültigen
Entscheidung ?). Der in dem definitiven Urteil enthaltene Befehl der Staats-
gewalt gilt und wirkt mit der unwiderstehlichen Kraft der staatlichen
Herrschermacht, auch wenn er der objektiven Wahrheit des Tatbestandes
S. 2. Ullmann, Lehrb. des deutschen Strafprozessrechts (1893) S. 2 fg. 78. Mer-
kel, Deutsches Strafrecht S. 173. Glaser, Strafprozes I S. 14fg. J. Gold-
schmidt a.2.0.8. 20 ff.
1) Von diesem Prinzip aus ist auch die Grenze der Verwaltungsgerichtsbarkeit
gegen die Zuständigkeit der gewöhnlichen Verwaltungsbehörden zu bestimmen. Ueber-
all wo der Staat ein grösseres Interesse daran hat, dass das Recht verwirklicht wird,
dass die abstrakten Rechtsregeln gleichmässig und unbeeinflusst von anderen Interessen
zur Anwendung gebra-ht werden, als dass ein bestimmter materieller Effekt erreicht.
eine Massregel durchgeführt wird, lässt er im Streitfall eine Urteilsfindung zu.
2) Gegen die Annahme eines TUrteilsbefehls erklärt sich Kisch, Beiträge zur
UÜrteilsichre, Leipz. 1903 S. 24 ff., indem er die Rechtswirkung der Urteile unmittelbar
aus dem Gesetz herleitet. Das abstrakte Gebot der Rechtsordnung wirkt aber in ganz
anderer Art wie der konkrete Befchl des Richters; sowie die Einberufung zum Militär-
dienst anders wie das Wehrgesetz, der Zahlungsbefehl der Steuerbehörde anders wie das
Steuergesetz, die Zollabfertigung anders wie das Zollgesetz usw. wirken. Mit dem
von Kisch geltend gemachten Grunde könnte man auch die Befehlsnatur aller Ver-
fügungen der Verwaltungs- insbesondere Polizeibehörden bestreiten.