356 Neunter Abschnitt: Die bewaffnete Macht des Reiches. $ 40
nicht Truppen der Einzelstaaten wären!). Aber die Militär-
hoheit der Staaten ist keine souveräne. Denn sie empfangen vom Reich die
Vorschriften über die Einrichtung ihrer Kontingente, über die Wehrpflicht,
die Rekrutierung, über die Qualifikation und das Dienstverhältnis der Offi-
ziere, über das Militär-Straf-, Prozess- und Disziplinarrecht, über Verpfle-
gung, Ausrüstung Ausbildung der Truppen. Ferner sind die Landesherren
zwar die Kontingentsherren, d.h. die Dienstherren der Mannschaften und Offi-
ziere; aber der Kaiser hat den Oberbefehl, das Recht, die obersten Offiziers-
stellen zu besetzen und die Befugnis, die einzelnen Kontingente zu inspizieren.
indlich steht den Einzelstaaten zwar die Verwaltung ihrer Kontingente zu,
aber dieselbe ist eine durchaus unfreie; sie ist nach den vom Reich gegebenen
Gesetzen, Verordnungen und Reglements, nach den vom Kaiser erlassenen
Befehlen und nach Massgabe der im Reichshaushaltsgesetz festgestellten Etats
zu führen. Diereichsverfassungs mässigen Grundlagen der Militär-
organisation lassen sich in dem Satz zusammenfassen: dem Reiche steht zu
die einheitliche Ordnung und Einrichtung des Heeres, der Oberbefehl in Krieg
und Frieden, die Feststellung des Rekrutenbedarfs und des Ausgaben-Etats;
den Einzelstaaten ist verblieben die Kontingentsherrlichkeit und die Selbst-
verwaltung ?).
Hiervon weicht aber der tatsächliche bestehende Zustand sehr erheblich
ab. InPreussen und dem Reichslande ist die Teilung der Befug-
nisse zwischen Landesherrn und Kaiser ohne praktische Bedeutung, denn die
quoad jus getrennten Befugnisse fliessen quoad exercitium wieder zusammen.
Andererseits ist Bayern durch den in der RV. bestätigten Versailler Ver-
1) Von den Schutztruppen in den Schutzgebieten wird hier selbstverständlich ab-
gesehen. Auch die Ostasiatische Besatzungsbrigade nahm eine Ausnahmestellung ein
und war eine besondere Formation neben den regelmässigen Kontingenten; sie war aber
keine dauernde Einrichtung. Vgl. das RG. v. 25. Febr. 1901 $5 u. 6 (RGBl. S. 8) und
vom 22. März 1901 $ 7 (RGBl. 8. 40). Soweit sie noch nicht vollständig aufgelöst ist,
ist ihre Verwaltung „dem Bundesstaat Preussen‘ übertragen. RG. v. 31. Mai 1906
$ 7 (RGBl. S. 478), da es eine Reichsmilitärverwaltung nicht gibt.
2) Iın Gegensatz zu der hier entwickelten Auffassung haben miehrere Schrift-
steller, insbesondere Zorn, G. Meyer, Brockhaus, Bornhak, Hänel,
Arndt die Ansicht vertreten, dass die Einheitlichkeit des Reichsheeres ebenso wie die-
jenige der Marine eine innere Einheit sei, in welcher die Sonderexistenz der Einzelstaa-
ten untergegangen ist, so dass die Kontingente nur als Abteilungen des Heeres für be-
sondere Zwecke der Verwaltung dienen, dass deshalb von einer Militärhoheit der deut-
schen Einzelstaaten sich in keinem Sinne reden lasse. Hänel $S. 531 versteigt sich
sogar zu der paraloxen Behauptung, „dass die gesamte Militärverwaltung im vollen
Wortsinneeigenceundunmittelbare Verwaltung des Reiches ist‘‘. Die Wider-
legung dieser Theorie, welche mit der Entstehungsgeschichte der deutschen Militär-
verfassung, mit allen Bestimmungen der Reichsverf., der Reichs-Militärgesetze, des
Reichsbeamtengesetzes usw. und dem tatsächlichen Rechtszustande in vollem Wider-
spruche steht, habe ich iin Archiv f. öffentl. R. Bd. III 8. 491 ff. und im Staatsr. des
D. R. Bd. IV S. 21f. erbracht. Alle obersten Reichsbehörden ohne Ausnahme, sämt-
liche Kriegsminister, der Rechnungshof, das Reichsgericht, der Bundesrat stehen auf
dem Standpunkt der hier vertretenen Auffassung und haben ihn konstant festgehalten.
Auch der Versuch von Jost, ‚Die staatsr. Theorien über die Natur des Heeres‘ (Leip-
ziger Dissert. 1908), eine Mittelmeinung zu begründen, nach welcher das d. Heer zwar
ein Reichsheer ist, in welchen aber neben der Reichsgewalt noch ‚in mannigfaltiger
Zuständigkeit die Staatsgewalt der Einzelstaaten wirkt‘, ist m. E. verfehlt. Die Frage,
ob «las deutsche Heer ein Einheitsheer oder ein Kontingentsheer sei, ist ein Lieblingsthema
juristischer Doktordisscrtationen, die teils wegen ihrer grossen Zahl teils wegen ihres
sehr geringen \Vertes hier nicht aufgeführt werden können.