85 Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich. 29
Ausübung seiner Tätigkeit geschaffen; es gilt dies namentlich von den aus-
wärtigen Angelegenheiten mit Einschluss des Konsulatwesens, der Marine,
der oberen 'Post- und Telegraphenverwaltung, eines Teils der Gerichtsbarkeit
letzter Instanz, eines Teils der Finanzverwaltung und einiger anderer Angele-
genheiten. So wichtig aber auch diese Zweige sind, im Verhältnis zu der Ge-
samtheit der Geschäftsverteilung zwischen Reich und Einzelstaaten bilden sie
die Ausnahme.
Andrerseits ist neben den der Gesetzgebung und Aufsicht des Reichs
unterstellten Angelegenheiten noch ein grosser Kreis von Öffentlichrechtlichen
Funktionen vorhanden, hinsichtlich deren die Einzelstaaten nicht Selbstver-
waltungskörper des Reiches sind, sondern eine freiere und unabhängigere
Stellung haben, indem sie nicht der Gesetzgebung des Reiches und demgemäss
auch nicht der Öberaufsicht desselben hinsichtlich der Ausübung dieser
Gesetze unterworfen sind. Freilich können diese, Angelegenheiten nicht völlig
getrennt und losgelöst werden von denjenigen, für welche das Reich kompetent
ist; die verschiedenen Lebensfunktionen des Staates hängen innerlich so fest
zusammen, durchdringen und bestimmen sich gegenseitig so vielfach, sind so
ineinander geschlungen und verwickelt, dass es unmöglich ist, sie durch einen
tiefen Schnitt von einander zu trennen oder zwischen ihnen eine Kompetenz-
grenze wie eine chinesische Mauer aufzurichten. Die Einzelstaaten empfinden
auf allen Gebieten des staatlichen Lebens die höhere Macht, der sie unter-
worfen sind, da sie sich nur innerhalb des Raumes bewegen können, den die
Reichsgesetzgebung ihnen freilässt. Aber ein solcher Raum ist vorhanden; er
ist durch das Reich begrenzt, aber nicht absorbiert. Allerdings hat das Reich
nach Art. 78 der RV. und kraft seiner Souveränetät ideell eine unbe-
grenzte Kompetenz; es kann die verfassungsmässig (im Art. 4) festge-
stellte Grenze zwischen seiner Machtsphäre und der Machtsphäre der Einzel-
staaten in der Form der Verfassungs-Aenderung einseitig, d. h. ohna Zustim-
mung der einzelnen Gliedstasten, verändern; es kann also den Gliedstaaten
die ihnen verbliebenen Hoheitsrechte entziehen. In einem gewissen Sinne
kann man daher sagen, dass die Einzelstaaten ihre obrigkeitlichen Rechte nur
durch die Duldung des Reiches, nur kraft seines Willens haben. Dies ist aber
nur eine andere Wendung des Satzes, dass die Einzelstaaten nicht souverän
sind; denn es gilt von allen Rechtsbefugnissen ohne Ausnahme, dass sie nur
entstehen und fortbestehen können unter den Voraussetzungen und Bedin-
gungen, welche die Rechtsordnung aufstellt, und dass mithin diejenige Potenz,
welche die Rechtsordnung zu verändern vermag, auch die Rechtsbefugnisse
aller ihr unterworfenen Rechtssubjekte beschränken und unterdrücken kann.
Das Verhältnis der Einzelstaaten zum Reich kann juristisch nicht darnach
bestimmt werden, wie es sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung einmal
gestalten könnte, sondern darnach, wie es nach dem gegenwärtig gültigen
Recht geregelt ist. Der jetzige Rechtszustand aber ist der, dass den Einzel-
staaten ein Gebiet staatlicher Macht und Tätigkeit verblieben ist, auf welchem
sie und nicht das Reich die Herren sind. Der Unterschied dieser Sphäre gegen
diejenigen Gebiete, auf denen das Reich nach Art. 4 kompetent ist, besteht