30 Zweiter Abschnitt: Das rechtliche Verhältnis d. Reiches zu den Gliedstaaten. $5
nur darin, dass die Einzelstaaten nicht bloss die Selbstverwaltung,
sondern auch die Selbstgesetzgebung oder Autonomie haben,
d. h. dass sie auch die rechtlichen Normen dieser Verwaltung aufstellen, die
Ziele, Zwecke und Mittel derselben rechtlich bestimmen.
Das Verhältnis der Einzelstaaten zum Reich bestimmt sich daher
nach den verschiedenen Staatsaufgaben oder Verwaltungs-Ressorts in drei-
fach verschiedener Weise; teils sind sie blosse Bestandteile, welche in dem
Reiche aufgehen; teils sind sie Selbstverwaltungskörper, welche die Durch-
führung und Handhabung der Reichsgewalt nach den vom Reich gege-
benen Normen und unter Aufsicht des Reichs vermitteln; teils endlich sind
sie autonome, d. h. nicht souveräne Staaten.
II. Das Unterordnungsverhältnis der Einzelstaaten zum Reich findet
stinen prägnanten Ausdruck in der Gehorsamspflicht der erste-
ren. Dieselbe ergibt sich daraus, dass die Einzelstaaten nicht blosse Bestand-
teile des Reiches sind, sondern eine eigene staatsrechtliche Persönlichkeit und
eine selbständige Willens- und Handlungsfähigkeit besitzen. Es genügt nicht,
dass die Reichsgesetze im ganzen Reichsgebiete von Rechts wegen gelten;
die Einzelstaaten müssen staatliche Handlungen behufs ihrer Durch-
führung vornehmen, die Einzelstaaten sollen die Reichsgesetze befolgen;
sie können auch dieselben verletzen. Während im Einzelstaat nur die
einzelnen Untertanen die Gesetze durch Nichtbefolgung oder durch positive
Zuwiderhandlungen verletzen können, kann im Bundesstaat das gleiche ge-
schehen von seiten der Gliedstaaten, weil auch sie Personen im Rechtssinn
sind !). Aus diesem Grunde besteht für die Gliedstaaten eine Gehorsamspflicht
gegen die Reichsgewalt, welche derjenigen der Untertanen analog ist. Die
Erfüllung dieser Gehorsamspflicht wird dadurch gesichert, dass dem Kaiser,
als dem Organ des Reiches, die Ueberwachung der Ausführung der Reichs-
gesetze zusteht. RV. Art. 17. Dieses Ueberwachungsrecht richtet sich nicht
bloss gegen die Reichsbehörden, sondern auch gegen die Einzelstaaten, und es
erstreckt sich nicht nur auf diejenigen Gebiete der Staatstätigkeit, in welchen
die Einzelstaaten als Selbstverwaltungskörper des Reiches die Reichsgesetze
positiv durchführen sollen, sondern auch auf die der Autonomie der
Einzelstaaten überlassenen Gebiete in der negativen Richtung, dass hier die in
der Reichsgesetzgebung enthaltenen Vorschriften nicht verletzt werden 2).
Das Ueberwachungsrecht ist auch nicht beschränkt auf diejenigen Materien,
welche reichsgesetzlich gerogelt sind, sondern auf alle Angelegenheiten, auf
welche die Zuständigkeit des Reiches sich erstreckt; es ist ein selbständiges
1) Vgl. auch Jellinek, Staatenverbindungen 8. 50. 310. Schönborn,
Oberaufsichtsrecht (Heidelb. 1906) 8. 49.
2) Jellinek, a a O. S. 42 ff. 306 sieht das Wesen des Staates, auch des
nicht souveränen, in dem Besitz einer unkontrollierbaren Rechtsmacht; er
stellt daher den Besitz einer solchen auch als erforderlich auf für die Gliedstaaten eines
Bundesstaates. Allein wenn der souveräne Staat darüber zu wachen hat, dass die ihm
untergeordnete Staatsgewalt das ihrer Autonomie und freien Verwaltung überlassene
Gebiet nieht überschreitet, und dadurch die Gesetze der souveränen
Gewalt verletzt, so liegt hierin auch eine Kontrolle des Gliedstaates hinsichtlich seiner
Tätigkeit auf jenem Gebiete; aber freilich eine Kontrolle, die nicht positiv eine Ober-
leitung, sonden negativ eine Abwehr von Vebergriffen bezweckt.