Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band I. Deutsches Reichsstaatsrecht. (1)

5 Die Beaufsichtigung der Einzelstaaten. 3] 
  
  
  
Recht neben dem Recht zur Gesetzgebung und unabhängig von ihm !). Die 
dem Kaiser nach Art. 17 obliegende ‚‚Ueberwachung‘‘ setzt das Vorhanden- 
sein eines Reichsgesetzes voraus; sie kann immer nur eintreten,nachdem 
ein Reichsgesetz erlassen ist, da sie die ‚Ausführung‘ der Reichsgesetze be- 
trifft; nach Art. 4 dagegen erstreckt sich das Recht des Reichs zur ‚‚Beauf- 
sichtigung‘“ auf alle Angelegenheiten, über welche das Reich Gesetze geben 
kann, nicht bloss auf diejenigen, über welche es Gesetze erlassen hat. 
Ist ein Reichsgesetz erlassen, so sind die Behörden der Einzelstaaten zu einem 
bestimmten Verhalten verpflichtet und die Beaufsichtigung ist darauf gerich- 
tet, ob sie das Gesetz befolgen und wie sie es zur Ausführung bringen; fehlt es 
dagegen an einem Reichsgesetz, so kann der Einzelstaat zwar eine Gehorsams- 
pflicht nicht verletzen, er kann aber durch sein Verhalten die Interessen 
des Reichs gefährden und dadurch gegen die Treuverpflichtung verstossen. 
Hier beschränkt sich die Reichsaufsicht darauf, dass die Regierungen der Ein- 
zelstaaten ein solches Verhalten unterlassen. 
Die Beaufsichtigung richtet sich ausschliesslich gegen die Einzel- 
staaten. Zwar sind auch die Reichsbehörden zur Befolgung der Reichs- 
gesetze verpflichtet und unterliegen der Beaufsichtigung, dass sie diese 
Pflicht erfüllen; aber diese Beaufsichtigung ist Dienstaufsicht, nicht Reichs- 
aufsicht im Sinne der RV. Wennder Kaiser (Reichskanzler) auf Grund 
des Aufsichtsrechts die Abstellung eines reichsgesetzwidrigen Verhaltens 
von einem Einzelstaat verlangt, so richtet sich dieses Verlangen gegen den 
Einzelstaat als solchen. Der Reichskanzler kann den Landesbehörden 
nicht von Aufsichts wegen Vorschriften erteilen und in ihre amtliche 
Tätigkeit eingreifen; er ist nicht ihr Vorgesetzter und hat über sie keine 
Dienstgewalt und keine Dienstaufsicht; er kann sich daher nur an die Zentral- 
regierung des Einzelstaates mit dem Ersuchen wenden, dem von ihm bemerk- 
ten Mangel abzuhelfen, und es ist alsdann Sache der Landesregierung, die 
erforderlichen Anordnungen zu treffen. Beharrt die Landesregierung darauf, 
dass die von ihren Behörden befolgte Auslegung des Reichsgesetzes die richtige 
und die vom Reichskanzler erhobene Rüge unbegründet sei, so ist dieser 
Konflikt der Ansichten durch den Bundesrat zu entscheiden, dessen Zuständig- 
keit teils auf der ausdrücklichen Anordnung des Art. 7 der RV., teils auf der 
Stellung, welche der Bundesrat im Organismus des Reichs einnimmt, beruht ?). 
Vgl. unten $ 11. Die Verletzung der Gehorsamspflicht seitens eines Bundes- 
gliedes kann dazu führen, dass es vom Reich zwangsweise (im Wege der Exe- 
kution) zur Erfüllung seiner verfassungsmässigen Bundespflichten angehalten 
1) RV.Art.4am Anfang. Vgl. meine Erörterung in der Deutschen Juristenz. 1906 
S. 613 ff. In dem Preuss. Verfassungsentwurf v. 15. Dez. 1866 war das Gesetzgebungs- 
recht des Bundes im Art. 4, die Aufsicht über die Handhabung der damals in den Bun- 
desstaaten über die im Art. 4 benannten Gegenstände geltenden Gesetze getrennt da- 
von im Art. 5 behandelt. A. Ans. ist Dambitsch, Komment. S. 104 fg. 
2) Vgl. Rümelin in der Zeitschr. f. die ges. Staatswissensch. Bd. 39 8. 158 ff. 
SeydelindenBli.f. administr. Praxis Bd. 45 S. 91 ff. u. Kommentar S.59 fg. Kiefer, 
Das Aufsichtsr. des Reichs. Bresl. 1909. Schönborn, Das Oberaufsichtsr. des 
Staats. 1906. Thoma, Verh. des XXX. Deutschen Juristentages Bd. I S. 66 und 
meine Erörterungen in Hirth’s Annalen 1873 Sp. 482 f£f., in der D. Juristenzeitung 1906 
S. 613 £f. u. 1910 S. 909 ff. u. im Staatsr. des D.R. 5. Aufl. Bd. IS. 107 —114.
	        
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